Das Literaturarchiv in Marbach zeigt den Nachlass Ernst Jüngers – und bestärkt damit das Unbehagen an dessen Werk.

Stuttgart - Zwei Dinge eröffnen die Ausstellung "Ernst Jünger - Arbeiter am Abgrund" im Marbacher Literaturmuseum der Moderne: der in Spektralfarben gemusterte Sonnenschirm, mit dem der Käfersammler Jünger auf Insektenjagd ging, und der von einem Einschuss durchlöcherte Stahlhelm, den er als Leutnant im Ersten Weltkrieg trug. Beide zusammen symbolisieren die ambivalente Struktur des Jünger'schen Werks: Sie sind Waffe des Kriegers und Insektenjägers und zugleich Schutzschild vor den Gefahren der Welt.

Doch was dann in drei großen Ausstellungsräumen folgt, kann diese Ouvertüre nicht einlösen. Denn was den Besucher dort erwartet, sind Papiere, Papiere, Papiere. "Ich bin kein Mann der Feder", schreibt Jünger in sein Kriegstagebuch im September 1918. Als Freiwilliger war er in den Ersten Weltkrieg gezogen, weil er die bürgerliche Sekurität des Friedenszeitalters verachtete. Doch die Marbacher Ausstellung zeigt bis zur Ermüdung, dass er in Wahrheit genau das ist, was er zu sein abstreitet: ein Papiertiger, der seine Schlachten im Medium des Schreibens ausficht.

Man könnte diesen Widerspruch als Jüngers wahre Größe auslegen - und die von Heike Gfrereis, Ellen Strittmatter und Stephan Schlak gestaltete Schau verfolgt genau diese Absicht. Das Gespräch über Jünger habe sich in den letzten Jahren "entspannt" und sei einer neuen "Gelassenheit" seinem Werk gegenüber gewichen, konstatiert der Berliner Historiker Schlak. Dennoch ist er derjenige, der noch am ehesten kritische Akzente setzt. Für Jünger sei der Krieg 1918 nicht zu Ende gewesen. Er habe ihn vielmehr fortgesetzt im "Schlachtfeld der Manuskripte": "Am Nullpunkt steht die Urerfahrung des Krieges. Die Geburt des Schriftstellers aus den Aufzeichnungen im Graben".

Der Krieger ist nie wirklich erwachsen geworden


Die Kuratorinnen Gfrereis und Strittmatter dagegen haben sich von der Fülle des im Archiv verfügbaren Materials verführen lassen. Jüngers umfangreiche Hinterlassenschaft kam noch zu seinen Lebzeiten 1994/95 nach Marbach. Weil das Wohnhaus des Autors in Wilflingen renoviert wurde und erst im März als Museum wiedereröffnet werden soll, befindet sich augenblicklich auch ein Großteil seiner Bibliothek und seiner Sammlungen zur Zwischenlagerung in Marbach. Diese Gelegenheit hat man sich nicht entgehen lassen und die Chance zu einer umfassenden Werkschau nutzen wollen, die sich, so Gfrereis, als eine "Einführung in Jüngers langes Leben und umfangreiches Werk für den Jünger-unkundigen Besucher" versteht. Was daraus in der Ausstellung geworden ist, könnte man in Jüngers Jargon als "totale Mobilmachung" allen verfügbaren Archivmaterials bezeichnen.

Das Verhalten eines Zwölfjährigen


Aber warum soll sich der "unkundige Besucher", warum sollen sich etwa Schulklassen, das Stammpublikum auf der Schillerhöhe, überhaupt für dieses Werk interessieren? Möglicherweise wird es den Kids gefallen, dass ein Schulversager, der den Kriegsausbruch als Lösung seiner Schulprobleme wahrgenommen hat, später doch noch Karriere macht. Oder sie werden neidisch registrieren, dass das Landgericht Ravensburg 1971 ein Verfahren gegen den Autor wegen "Vergehen gegen das Opiumgesetz" eingestellt hat. Prominent muss man eben sein.

Aber sie werden gleichzeitig erkennen, dass dieser Krieger und Insektenjäger nie wirklich erwachsen geworden ist. Wie ein Zwölfjähriger klebt er getrocknete Blüten in die eigenen Tagebücher, wie ein Teenager sammelt er wie besessen - nein, nicht Fotos von Hollywoodstars oder Fußballspielern, sondern Käfer und Muscheln, Sanduhren und "letzte Worte". Der Krieger, der die Bürger verachtet und zusammen mit dem LSD-Erfinder Albert Hofmann mit Drogen experimentiert, ist zugleich ein Pedant, der monomanisch Papier über Papier beschreibt und deshalb konsequenterweise in zweiter Ehe eine ehemalige Marbacher Archivarin heiratet.