Den heftige Widerstand gegen S 21 erstaune ihn, sagt der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Ernst Ulrich von Weizsäcker im Interview.

Stuttgart - Als vor einem Jahr das Startsignal für das Bahnvorhaben Stuttgart 21 gegeben wurde, gab es schon bei den Feierlichkeiten am 2. Februar 2010 lautstarke Proteste. Die Heftigkeit des nachfolgenden Widerstands gegen das 4,1 Milliarden Euro teure Projekt erstaunte aber dennoch, meint der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und Umweltexperte Ernst Ulrich von Weizsäcker aus Emmendingen.

Wenn man Sie vor einem Jahr gefragt hätte, ob Sie glauben, dass Stuttgart 21 eine bundesweit beachtete Protestbewegung und eine Diskussion über die Demokratie in Deutschland auslöst, hätten Sie das geglaubt?


Von Weizsäcker: "Nein, das hätte ich nicht geglaubt. Denn die Stimmung in der Bevölkerung ist im Prinzip pro Bahn. Ich verstehe aber heute, dass nach mehr als zehn Jahren, in denen die Menschen über die wahren Kosten irre geführt worden waren, die ständigen Kostensteigerung zu dieser Rebellion geführt haben."

Woran glauben Sie hat sich der Unmut entzündet ?


Von Weizsäcker: "Überall in Deutschland und weltweit gibt es die Grundstimmung, dass die Politik nicht mehr die Interessen der Bürger vertritt. In Stuttgart kam das teure Bahnhofsprojekt hinzu, dessen Baubeginn in die Finanzkrise und damit in die Spardiskussionen fiel. Gerade in dieser Zeit Geld zum Fenster rauszuwerfen, war doppelt unpopulär. Da haben die frühen Kritiker wie der Stuttgarter Architekt Peter Conradi (SPD) und der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, Gangolf Stocker, plötzlich lauter neue Freunde gehabt und sind auf die Straße gegangen, und da fand man dann nicht nur die notorischen Protestler, sondern lauter gut situierte Bürger."

In der Debatte um die Proteste gegen Stuttgart 21 wurde die Begriffe "legal" und "legitim" häufig verwendet. Wie differenzieren Sie diese Begriffe?


Von Weizsäcker: "Was legal ist, ist rechtlich festgelegt. Aber es gibt in Deutschland auch das Widerstandsrecht - dank des Widerstands gegen Hitler vom 20. Juli 1944. Ich bin der Meinung, dass es in der freiheitlichen Demokratie auch Platz für Ausdruckformen geben muss, die vom Gesetzgeber nicht direkt vorgesehen sind. Es ist Aufgabe der Gerichte, fallweise zu entscheiden, was rechtmäßig und was vielleicht gerade noch legitim ist. Ich persönlich wünsche mir da eine tolerante Rechtsprechung."

Welche Konsequenzen sollte die Politik aus den Protesten ziehen?


Von Weizsäcker: "Die Politiker sollten ihr Demokratieherz häufiger sprechen lassen und den Menschen das Gefühl geben, sie und ihre Bedenken werden gehört. Es ist übrigens das große Verdienst des Stuttgart-21-Schlichters Heiner Geißler, dass er die Gegner endlich ernst genommen hat. Die Politik muss nach Wegen suchen, wie das Volk seine Stimmung zum Ausdruck bringen kann. Allerdings muss das auch Grenzen haben. An den Grundrechten darf überhaupt nicht gerüttelt werden, und Außenpolitik, Rechtspolitik oder tausend Haushaltsdetails eignen sich auch nicht für Plebiszite."

Wie steht ihre Partei in dem Konflikt da?


Von Weizsäcker: "Die SPD liegt mit ihrem Vorschlag, das Volk zu Wort kommen zu lassen, völlig richtig. Doch politisch schadet ihr leider die Polarisierung um Stuttgart 21. Wenn alle nur noch Bahnhof hören, finden hauptsächlich die scharfen Gegner bei den Grünen und die scharfen Befürworter bei der CDU Gehör. "

Was hat die Schlichtung aus Ihrer Sicht gebracht?


Von Weizsäcker: "Sie hat zwar etwas Gift aus der Debatte rausgenommen, aber praktisch nicht viel gebracht. Wenn nach dem Stresstest teure Änderungen nötig sind, müsste die Bahn das Geld aus anderen Projekten abziehen. Die Frage ist, ob sich das andere Bundesländern gefallen lassen. Ich halte es immer noch für denkbar, dass der Kopfbahnhof ertüchtigt wird oder ein ganz anderes Konzept, etwa ein oberirdischer Durchgangsbahnhof zum Beispiel am jetzigen Nordbahnhof, geplant wird, mit dem man auch die geologischen Probleme im Stuttgarter Talkessel vermindern könnte. "

Glauben Sie an einer höhere Wahlbeteiligung als Folge der Debatte um Stuttgart 21?


Von Weizsäcker: "Höhere Wahlbeteiligung ja, aber eher weil erstmals seit Jahrzehnten Wechselstimmung im Lande ist. Ich hoffe auch, dass landespolitische Themen wie Schul- und Hochschulpolitik eine stärkere Rolle spielen werden und die Menschen an die Urnen bringen."