Ernst Ulrich von Weizsäcker, Präsident des Club of Rome, fordert eine Wirtschaft, die nicht nur auf gnadenlosem Wettbewerb, ständigem Wachstum und kurzfristigem Denken beruht.

Stuttgart - Vor fünfzig Jahren veröffentlichte der Club of Rome, ein Zusammenschluss von Experten unterschiedlichster Fachrichtungen, den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ – ein weltweit beachteter Weckruf für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit. Ernst Ulrich von Weizsäcker, einer der Präsidenten des Club of Rome, sieht heute einen noch viel größeren Handlungsbedarf.

 
Herr Professor von Weizsäcker, der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ wird von Kritikern als Beispiel für übertriebene Warnungen gesehen. Ein Kollaps der Weltwirtschaft ist bisher nicht eingetreten.
Das ist zutreffend, aber das stand nicht in dem Buch. Die Warnung wurde damals konditional formuliert: Wenn wir nicht das eine oder andere dramatisch verbessern, wird es zum Kollaps kommen. Und vor allem im lokalen Umweltschutz hat sich viel getan. Anfang der 1970er-Jahre war es noch korrekt zu sagen: Je mehr Industrieoutput, desto mehr Verschmutzung. Doch dann wurde in Deutschland, in Japan und in den USA eine strategische Umweltgesetzgebung eingeleitet, und plötzlich wurde dieser Zusammenhang falsch. Damals war das Wasser des Bodensees scheußlich – heute ist es sauber. Es hat sich also nicht der Club of Rome geirrt, sondern die Interpreten, die aus dem Bericht nur den Pessimismus herausgelesen haben.
Muss es immer eine Gratwanderung sein zwischen Warnen und Hoffnung geben?
Es ist eine traurige historische Erfahrung, dass die Menschheit nur aus Katastrophen lernt. Daher war die Dramatisierung damals pädagogisch richtig.
Sind wir heute auf einem guten Weg?
Nein. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir eine glanzvolle Entwicklung der Ökonomie erlebt und eine dramatische Verschlechterung der Ökologie. Leider hat sich die Umweltbewegung lange fast ausschließlich auf die lokale Verschmutzung konzentriert. Aber inzwischen ist der Klimawandel ein globales Problem, die Böden degradieren überall und die Artenvielfalt sinkt und sinkt.
Ihre Kritiker haben schon in den 1970er-Jahren argumentiert, dass Menschen kreativ sind und Wissenschaftler und Ingenieuren schon eine Lösung für alle Probleme einfallen wird. Ist der erfolgreiche Kampf gegen die Umweltverschmutzung nicht ein Grund für Optimismus?
Im Prinzip ja, aber diese Probleme waren vielleicht ein Zwanzigstel so schwer wie die Herausforderungen, die wir heute meistern müssen. Da genügen nicht ein paar gescheite Gedanken, da muss die Wirtschaft verändert werden. Und eine Wirtschaft, die auf gnadenlosem Wettbewerb, ständigem Wachstum und kurzfristigem Denken beruht, ist nicht reformierbar. Wir müssen also das System verändern. In unserem neuen Bericht „Wir sind dran“ diskutieren wir zum Beispiel Charles Darwin, der nie gesagt hat: „Je mehr Wettbewerb, desto schneller die Evolution.“ Die Ökonomen haben einen „Kampf ums Dasein“ herausgelesen, aber diesen Begriff hat Darwin nie verwendet. Kampf ums Dasein bedeutet eine Verminderung der Vielfalt, aber Darwin war gerade von deren Vermehrung fasziniert. Zur Vielfalt gehören auch die Schwächeren – und das geht in ein Ökonomengehirn nicht hinein.
Welche Rolle spielen die Schwächeren?
Die Galapagosfinken, die Darwin entdeckt hat, hätten in Gegenwart der Festlandfinken die Vielfalt ihrer Schnabelformen nie entwickelt. Der Spechtfinken kann zum Beispiel Dornen von Kakteen abbrechen und damit seinen Schnabel verlängern, um in länglichen Blüten an den Nektar zu gelangen. Damit wäre er im Vorteil gewesen. Auf den Galapagos-Inseln ist also Vielfalt entstanden in der Abwesenheit von Konkurrenz. Die Genetik erklärt, warum: Die meisten Mutationen sind rezessiv. Sie verändern also nicht den Organismus und bieten den Nachkommen keinen evolutionären Vorteil. Erst wenn sich in der Krise – sagen wir, ein Parasit dezimiert die Population – die Organismen in ökologische Nischen zurückziehen, steigt statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass durch Vater und Mutter dieselbe rezessive Mutation aufeinandertrifft. Dann kann sie vielleicht die richtige Antwort auf die neue Herausforderung sein, etwa die Nachkommen gegen den Parasiten immun machen.
Wenn das Finanzsystem nicht reformierbar ist – muss es dann ersetzt werden?
Sagen wir so: Die Helden der Ökonomie aus der Zeit der Aufklärung werden heute systematisch falsch zitiert. Nehmen Sie Adam Smith…
… der das Gesetz der unsichtbaren Hand formulierte: Selbst wenn alle nur tun, was ihnen nützt, kann etwas für das Gemeinwohl entstehen.
Ein schöner Gedanke – und die freiheitliche Antwort auf Thomas Hobbes, der 100 Jahre zuvor gesagt hatte, dass man einen starken Staat braucht, einen Leviathan, der alles zerstört, was sich nicht fügt. Aber für Adam Smith war selbstverständlich, dass die geografischen Reichweiten von Recht und Markt deckungsgleich sind. Seinen Egoismus konnte man damals nur innerhalb fester rechtlicher Grenzen ausleben. Doch heute ist der Markt global und er kann unterschiedliche nationale Rechtssysteme gegeneinander ausspielen. Am Ende gewinnt das schwächste Rechtssystem. Wir brauchen wieder – wie bei Adam Smith – eine Balance zwischen Recht und Macht. Wir brauchen zum Beispiel eine Steuer, die Finanztransaktionen sanft verteuert – die Tobin-Steuer. Aber die ist an der Wall Street verhasst.
Wer könnte sie durchsetzen?
Wenn Europa voranginge, hätten andere Staaten einen Wettbewerbsvorteil…
… ein klassisches soziales Dilemma: Nur wenn alle an einem Strang ziehen, können alle profitieren.
Wir müssen also den Menschen erklären, dass das heutige System strukturell zerstörerisch ist: Es reduziert die Vielfalt. Das hat übrigens auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato Sí“ geschrieben. Und wenn man sich die Weltkarte anschaut, stellt man fest, dass praktisch alle Länder bereit wären, die Finanzmärkte wieder zu regulieren – nur die angelsächsischen Länder nicht. Wenn Europa also nach dem Brexit die Initiative ergreift und sich mit China zusammentut, sind sie stärker als die USA. Da brauchen wir einen europäischen Stolz und müssen uns selbst sagen: Wir kriegen das hin!
In Ihrem Bericht „Wir sind dran“ schreiben Sie, dass es eine neue Aufklärung brauche. Der rationale Dialog, den die alte Aufklärung forderte, reiche nicht aus. Warum?
In den USA mag es nötig sein, die Rationalität gegen Donald Trump zu verteidigen. Aber wir brauchen auch Werte – vor allem den Wert der Balance. Es ist zum Beispiel nicht gut, wenn neue Technologien disruptiv sind, also alles zerstören – obwohl das im Silicon Valley viele glauben. Wir brauchen vielmehr eine Balance zwischen Markt und Staat, zwischen kurzfristigem und langfristigem Denken, zwischen Mensch und Natur, zwischen Geschwindigkeit und Stabilität, zwischen Leistungsanreizen und Gerechtigkeit. Letzteres ist ein alter Streit zwischen Linken und Rechten, aber es haben beide Seiten Recht. Wir brauchen also mehr Balance und weniger Rechthaberei.