Der eine kam ins Waisenhaus, der andere blieb bei der Mutter: Das Schicksal der Stuttgarter Ernst und Gustav Nonnenmacher ist ein Stück deutsche Geschichte.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Stuttgart - Margarete legt ein paar letzte Scheite Brennholz ins Kanonenöfchen, das die Dachstube notdürftig warm hält. Ihr siebenjähriger Sohn Ernst stromert durch die Stadt, Guschtl liegt im Körbchen, atmet rasselnd und nagt an einem Brotkanten. An diesem Novembernachmittag im Kriegsjahr 1915 wartet Margarete auf die Frau von der Fürsorge, die den kleinen Buben mitnimmt. Die beiden Brüder finden nie mehr zueinander, sie werden sich später wie Feuer und Wasser entgegenstehen. Was an einem Menschen ist ursprünglich? Und an welchen Stellen kann er, einem Zinnmännchen gleich, nur sein, was äußere Kräfte aus ihm machen? Frank Nonnenmacher hat mit seinem Vater Gustav und mit seinem Onkel Ernst unzählige Gespräche geführt. Daraus entstand eine Stuttgarter Familiensaga und ein Stück deutscher Geschichte. Es beginnt anno 1895 mit Margarete, der Tochter eines Großknechts auf der Alb.

 

Margarete ist eine erblühende Schönheit: das tiefschwarze Haar meist zu einem Dutt zusammengesteckt, die dunkelblauen Augen, der sinnliche Mund. Zum Verhängnis wird ihr, dass der älteste Sohn des Bauern Gefallen daran findet und ihr beharrlich nachstellt, bis seine Frau davon Wind bekommt. Der Jungbauer schiebt alles auf das durchtriebene Mädel, das ihm immer schöne Augen macht. Margaretes Vater tut, was der Bauer verlangt: Er verstößt seine Tochter.

Mit 15 steht Margarete allein am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sie findet Arbeit als Wäscherin beim Bleyle, dann als Weißbüglerin in gut situierten Haushalten. Wenn die Hausherrinnen zufrieden sind mit den Brustkrägen und Bügelfalten, gibt es 25 Pfennig Lohn. Mit Männern ist sie vorsichtig. Keine Geplänkel. Erst zwölf Jahre später, mit 27, glaubt sie, einen Mann gefunden zu haben: Gottlob, ein fröhlicher Eisenbahner aus dem Strohgäu. Er lädt sie an einem Sonntagnachmittag auf dem Schlossplatz auf witzig-charmante Art zu einer Tasse Schokolade ein. Sie machen Spaziergänge, erzählen sich ihr Leben oder gehen ins Delphi, wo Stummfilme mit Klavierbegleitung laufen. An einem Juniabend lieben sie sich. Von nun an geht’s bergab.

Gottlob kommt seltener, die Nachbarin hat ihn mit einer anderen gesehen. Zu alldem ist Margarete schwanger. Seine erste Reaktion: „Wegmachen!“ Tags darauf bringt er eine Engelmacherin mit, die gleich zur Tat schreiten will. Margarete schickt beide weg.

Es geht um die nackte Existenz

Im April 1908 ist das Kind da, ein Junge: Ernst. Jetzt geht’s um die nackte Existenz. Wenn sie arbeitet, wird Ernst von einer Nachbarin zur anderen gereicht. Oft findet sich gar keiner zum Aufpassen. Es mangelt an allem. Ein Hundeleben. Als der Bub fünf ist, lernt sie Max kennen, einen Unternehmer, wie er sagt. Sie wird wieder schwanger. Gustav kommt 1914 zur Welt, und der Unternehmer Max entpuppt sich als Lügner, Faulenzer und Krimineller. Wenn Margarete abends von der Arbeit heimkommt, ist die Schnapsflasche leer und Gustavs Windel voll. Als man Max verhaftet, ist es für sie fast eine Erleichterung.

Kriegsbegeisterung allenthalben, Margarete findet keinen Grund zum Jubeln. Das ewige Weinen des unbeaufsichtigten Gustav sei nicht auszuhalten, sagen die Nachbarn. Der Lohn reicht hinten und vorne nicht: Die Herrschaften haben es inzwischen auch nicht mehr so dicke, aber mit einer Weißbüglerin können sie ja umspringen, wie sie wollen. Sie kann nicht mehr. Die Frau von der Fürsorge schlägt vor, Gustav zu Kost- eltern zu geben. Als der Kleine auch noch Diphtherie bekommt, nimmt sie den Vorschlag an. Ernst in seinem frühreifen Ton meint nur: „S’werds Beschte sei.“

Meist sei es sein Vater Gustav gewesen, der von früher gesprochen habe, sagt Frank Nonnenmacher: „Wenn ich damals, als die Hungersnot war, verreckt wäre, hätte sich niemand drum geschert. Du hattest es besser.“ Ernst sagte dann: „Du hattest jeden Tag zu essen, ein sauberes Bett, für dich war gesorgt. Du hattest es besser.“ – „Das mag sein“, sagte Gustav, „aber du hattest eine Mutter. Du warst nicht allein.“

Gustav kommt zu einer Holzfällerwitwe in den Schwarzwald. Sie kümmert sich wenig um ihn, stirbt Ende 1918. Nächste Station sind die Rentschlers in Ludwigsburg, wo er zum ersten Mal familiäre Geborgenheit findet: Da ist Karoline, eine Eisenbahnerwitwe, die im Spital Spucknäpfe leert und sich oft Krankheiten holt. Da ist die fromme Tante Luise, die morgens um vier die Ludwigsburger Zeitung austrägt. Da ist Onkel Heiner mit seiner kindskopfgroßen schwarzbraunen Geschwulst im Gesicht, die immer leicht blutet, nässt und stinkt. Er war in englische Giftschwaden gekommen. Gustl ist gern bei ihm und in seinem Gärtle. Wenn die Leute fragen „Ja, zu wem g’hörsch jetzt du?“, sagt er „I bin der Rentschlers-Guschtl“.

Nach drei Jahren steht ein Beamter der Fürsorge vor der Tür und teilt mit, dass der Bub ins Waisenhaus käme. Die Rentschlers fügen sich. An Ostern 1921 betritt Gustav das „Ehemals Königliche Waisenhaus“ am Charlottenplatz 1 in Stuttgart. Vor der ersten Nacht im großen Schlafsaal setzt sich die Erzieherin Charlotte an sein Bett. Sie bindet ihr Haar auf, singt für ihn „Mit Rosen bedacht“, streicht ihm übers Haar. Wie schön das ist. Für Gustav steht fest, dass sie in ihrer weißen Tracht mal ein Engel wird – wenn sie es nicht schon längst ist, diese wunderschöne „Tante Charlotte“ mit den langen Haaren und der liebevollen Hand.

Brutale Konkurrenzgesellschaft

Im Waisenhaus herrscht ein von Respekt getragener Ton. Es gibt keine körperliche Züchtigung. Musik und Kunst werden gefördert. Und Charlotte sagt „mein Lieber“ zu ihm. „Mein Lieber“, wiederholt er leise.

Wenn die anderen in die Sommervakanz gehen, die meisten haben wenigstens Tanten oder sonstige Adressen, bleibt Gustav im fast leeren Waisenhaus. Er liest Hauff, Uhland, bastelt Segelflugzeuge. Als der Schulabgang bevorsteht, geben sich die Erzieher alle Mühe, ihren Schützlingen eine gute Lehrstelle zu besorgen. Ein Waisenhauskind kann man leicht ausbeuten, weil keine wachsamen Elternaugen draufschauen: Die Zwillingsmädchen aus seiner Klasse landen bei einem Bäcker auf der Ostalb – und gehen nach vier Wochen verzweifelt in die Jagst. Gustav kommt wegen seiner künstlerischen Begabung zu einem Bildhauer nach Holzgerlingen. Nach einer weltentrückten Waisenhausjugend ist er kaum auf die brutale Konkurrenzgesellschaft der ausgehenden Weimarer Republik vorbereitet – im Gegensatz zu seinem Bruder.

Der vorlaute Ernst

Ernst kommt gut in der Schule zurecht. Und wehe, es nennt ihn einer „Bankert“. Er lernt rasch: Wer eine große Klappe hat und hart

Ernst Nonnenmacher im Jahr 1946 Foto: privat
zuschlägt, der gilt was. Morgens kriegt er ein Vesperbrot mit, dann muss er sehen, wo er bleibt. Ernst ist ein Stromer und Meister im „Organisieren“. Sein Revier ist die Innenstadt bis zum Cannstatter Neckarufer. Er schwänzt, raucht Overstolz, fühlt sich als Spartakist. Keiner kann ihm was. Seiner Mutter entgleitet er, sie ist allmählich fertig mit den Nerven. Mal nimmt sie ihn in den Arm, wenn es mal wieder Ärger gibt. Mal lässt sie ihn, wenn er zu spät nach Hause kommt, einfach vor der Tür stehen und schreit, er solle auf dem Scheißhaus schlafen.

Ernst fliegt von der Schule. Trotz seiner Jugend wird er Wortführer bei den hitzigen Kneipendiskussionen. Er sieht sich jetzt als Vorkämpfer der Arbeiterklasse und als Anarchist. Er geht auf Wanderschaft, arbeitet beim Kohlenhändler, beim Zirkus, beim Straßenbau und klaut sich zusammen, was er brauchen kann. Bei einem Hohenloher Bauern wird er beinahe sesshaft – bis er dem Knecht zwei Zähne einschlägt.

Anfang der 30er Jahre ist die Lage in Deutschland so schlimm wie nie. 5,5 Millionen Arbeitslose, Suppenküchen, Notunterkünfte. An Gustav gehen die Turbulenzen vorbei. Politik ist nicht seine Sache. Wenn er den Kommunisten oder Nazis zuhört, ist das für ihn nur unsympathisches Gegröle. Er will ein guter Bildhauer werden, arbeitet und studiert in jeder freien Stunde.

Prügelei, Diebstahl, Einbruch, Landstreicherei

An einem Sonntagmittag kriegt er Besuch: Margarete mit Ernst: „Wenn du der Guschtl Nonnenmacher bisch, dann bin i dei Mudder.“ „Grüß Gott“ ist alles, was Gustav sagen kann. Man geht in eine Wirtschaft, Ernst überwindet die Stille, erzählt ausgiebig von sich und seinen Abenteuern. Zum Abschied gibt man sich die Hand. Margarete weint bei der Rückfahrt im Zug. Ernst meint: „Der ist mir zu schüchtern und zu schmächtig.“

Ernst kappt das Band zur verhassten Gesellschaft, landet immer wieder im Zuchthaus wegen Prügelei, Diebstahl, Einbruch, Landstreicherei. Im April 1941 will er sich nach einer Haftstrafe (die er „auf einer Arschbacke“ abgesessen hat) bei der Wache Stuttgart-Mitte polizeilich melden. Auf so einen hat man gerade gewartet: „So Asoziale wie dich lassen wir nicht mehr frei rumlaufen. Da gibt es jetzt Extraeinrichtungen.“

Ankunft im KZ Flossenbürg: Einer in Ernsts Gruppe meldet sich nach zwei Stunden Stillstehen auf dem Appellplatz: Er müsse bitte austreten. Ein SS-Mann schlägt ihm brutal ins Gesicht: „Du hast um gar nichts zu bitten.“ Kurz darauf sieht Ernst den zitternden Mann in einer Urinlache stehen. Hier herrscht der Sadismus: Häftlinge bekommen Wasser in den Rachen gepumpt, bis sie ersticken, werden im Steinbruch schikaniert, bis sie eingehen, drehen durch vor Schmerzen beim berüchtigten „Baumhängen“. Einmal beschweren sich Einwohner im Dorf über das viele Blut und die Leichenteile im Bach, der durch den Ort fließt.

Ernst wird, weil er eine Sektflasche in die Baracke geschmuggelt hat, zu 25 Hieben mit dem Ochsenziemer verurteilt. Beim fünften Schlag fängt er an zu schreien, beim zehnten platzt die Haut, nach 20 Hieben tritt das rohe Fleisch hervor. Nach 25 ist er noch bei Bewusstsein. Er überlebt, doch schon vor den Schlägen war er ein gebrochener Mann – Ernst, der ewig Unerschütterliche. Dass er dann zu einem Korbflechtkommando ins KZ Sachsenhausen verlegt wird, ist ein Himmelsgeschenk in diesen Zeiten. Als sich dort ein SS-Mann bei einem Häftling vergewissern will, dass er doch nie jemanden wirklich grausam behandelt habe, weiß Ernst: Das Nazireich liegt in Scherben.

„Mit der Zeit ist mir klar geworden: Mein Onkel und mein Vater waren beide traumatisiert“, sagt Frank Nonnenmacher. „Gustav verfolgte das Gefühl der Verlassenheit bis ins hohe Alter. Es war sein Glück, dass er die Kunst hatte. Ernst ging mit den Beschädigungen seiner Seele im KZ souveräner um. Er hat sich das Leben mit seiner Durchsetzungskraft, die er sich schon als Kind erwarb, lebenswert gemacht.“

Der unsichere Gustav

Während sein Bruder im KZ fast draufgeht, spaziert Gustav in Fliegeruniform durch Stuttgart – und sieht, wie eine SA-Meute einen alten jüdischen Händler am Bart aus seinem Geschäft zieht. „He, das geht doch nicht, was Sie da machen“, sagt er. Der Scharführer packt ihn am Arm: „Wenn du dich hier nicht eindeutig verhältst, bist du schneller in Dachau als dieser Itzig da.“ Gustav bringt kein Wort heraus und geht. Dafür schämt er sich zeit seines Lebens.

Gustav hat, nachdem ihn der Bildhauermeister wegen der Wirtschaftskrise entlassen musste, bei den

Gustav Nonnenmacher im Jahr 1932 Foto: privat
Segelfliegern auf dem Hornberg angefangen, ist dann Flugzeugbauschreiner auf der Reichssegelflugschule der Luftsportlandesgruppe 15 geworden. Wolf Hirth, der berühmte Flieger, nimmt sich seiner an wie ein Vater. Er gehört nun wohin und fliegt selbst. Von 1939 an ist Gustav Pilot einer Ju-52-Staffel für Versorgungsflüge und avanciert zum Kriegshelden. Er wird neun Mal abgeschossen, doch irgendwann berührt ihn nichts mehr. Nach 2480 Flugstunden ist er ein seelisches Wrack. Man verleiht ihm das Deutsche Kreuz in Gold, das EK I und II, die Frontflugspange in Gold, das italienische Kriegsverdienstkreuz, den albanischen Kriegsorden – und versetzt ihn als Fluglehrer in die Steiermark. Dort macht er sich bald schwere Vorwürfe, seine Schüler für den sicheren Tod auszubilden.

„Wie viele der 68er-Generation fragte ich meinen Vater oft: Was hast du damals gemacht?“, sagt Frank Nonnenmacher. „Er sagte nie, dass könne ich eh nicht verstehen, weil ich nicht dabei war, oder dass mit den alten Geschichten doch nun endlich mal Schluss sein müsse. Er stellte sich immer seinem hart und unerbittlich argumentierenden Sohn. Er litt darunter, aber er gab ihm das Recht, so zu fragen. Er wollte vor seinem Sohn moralisch bestehen.“

Margarete war in den letzten Kriegsjahren mittellos, konnte nicht mehr arbeiten, litt unter chronischer Bronchitis, Atemnot, Depressionen. Ernst holte sie zu sich, sie saß nur noch gleichgültig vor ihrem Radio. Ihren Sohn Gustav hat sie nie mehr gesehen.

Weil Ernst im KZ den grünen Winkel der „Berufsverbrecher“ getragen hatte, stufte man ihn nicht als Opfer des Nationalsozialismus ein, er bekam keine Entschädigung. Er arbeitete im Straßenbau, wurde Mitglied bei der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden, heiratete. Seine kulturelle Heimat wurde das Mainzer Unterhaus, wo er einmal nach einem Auftritt von Konstantin Wecker ins Gespräch mit dem Sänger kam. Wecker schrieb am nächsten Tag das Lied „Sturmbannführer Meier“ – ein bleibendes Zeugnis von Ernst.

Gustav Nonnenmacher im Jahr 1990 Foto: privat
Gustav wurde als Bildhauer regional bekannt. Er heiratete, wurde Vater von zwei Kindern. Er war stolz auf seinen Sohn Frank, aber für sein Leben interessierte er sich nicht sehr. Selbst seinem Enkel war er kein begeisterter Opa. In seinem Innern blieb er immer verhaltensunsicher und ein
Ernst Nonnenmacher im Jahr 1983 Foto: privat
Heimatloser.

Ernsts Frau machte den Anfang mit gegenseitigen Besuchen. Die Frauen unterhielten sich gut, die Brüder sagten wenig. Sie trafen sich nie allein. Und sie vermieden stets, über die Kriegszeit zu sprechen. Es gab einen Satz als gemeinsame Basis: „Die Nazis waren Verbrecher.“ Ernst starb 1989, er wurde 81. Gustav starb vor drei Jahren im Alter von 98. Der Platz vor seinem Haus in Worms ist nach ihm benannt.