Explizite Stellen gibt es in Michel Houellebecqs Skandalroman „Elementarteilchen“ mehr als genug. Trotzdem macht der Sex, den er beschreibt, nicht glücklich. Denn Sex ist zur Ware geworden, der man jeden Tag aufs Neue hinterherjagen muss.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Michel Houellebecq als Meisterautor erotischer Literatur? Auf diese Zuordnung wird man sicher nur schwer kommen. Es reicht beim Romanverfassen ja keineswegs, pornografische Passagen zu bieten. Damit wir das Ganze auch wirklich als erotisch empfinden, müssen diese Passagen nicht nur Lust beschreiben, sondern beim Lesen auch Lust bereiten, müssen anregend sein, verführerisch, delikat, müssen unsere Instinkte als Voyeur befriedigen und die eigene Fantasie anregen. Kurzum: in erotischer Literatur muss Sex auch Spaß machen – den Figuren im Buch weitgehend, dem Leser als Beobachter unbedingt.

 

Wer auch nur einen Roman von Michel Houellebecq gelesen hat, weiß aber: das Leben macht hier schon lange keinen Spaß mehr, der Sex am allerwenigsten. Das gilt auch für „Elementarteilchen“, die durch und durch depressive und auch depressiv stimmende Lebensgeschichte der beiden Halbbrüder Michel und Bruno, mit der Houellebecq 1998 in Frankreich und 2001 auch in Deutschland der literarische Durchbruch gelang. Der Roman wurde damals heftig von Kritikern und Lesern debattiert – und zwar insbesondere, weil der Sex im Leben der beiden Protagonisten und im Verlauf des Romans eine so beherrschende Rolle spielt. Aber was will uns der Autor damit nahelegen? Gibt es für ihn noch irgendeine Erotik, die man guten Gewissens zwecks Lebensbereicherung propagieren könnte?

Michel ist Molekularbiologe, Bruno Lehrer. Sie haben verschiedene Väter, aber dieselbe Mutter. Diese Mutter hat beide Söhne in ihrer Kindheit verstoßen, um sich ganz dem Konzept der Selbstverwirklichung aus den siebziger Jahren widmen zu können. Nun sind beide Männer Anfang/Mitte vierzig, haben also unter normalen Umständen etwa die Hälfte des Lebens hinter sich und stecken, sinnbildlich gesprochen, in einem tiefen, nicht enden wollenden Tal der Tränen. „Lebenskrise“ wäre für ihren Zustand das falsche Wort; es setzt ja voraus, dass man von irgendeiner kommoden und sicheren Basis aus in ein Loch, in einen seelischen Abgrund gestürzt ist, aus dem man sich nun mühsam, aber doch immerhin wieder aufrappeln kann.

Dauerdepression als Seelenzustand

Das ist bei Michel und Bruno ganz anders. Ihr Abgrund ist just die Basis, ist der seelische Dauerzustand seit ihrer Pubertät. Er wird auch, darüber sind sich die Romanfiguren vollkommen klar, bis zum Tod anhalten. Und ihr eigentliches Problem ist, daran lässt der Autor keinen Zweifel, eine durch nichts zu steuernde oder gar aufzuhaltende Dynamik, ausgelöst von der modernen Definition von Individualität und Sex.

Typisch Houellebecq! Er erzählt ja nie einfach nur Geschichten. Auch dieser Roman ist durchsetzt von philosophischen Exkursen, naturwissenschaftlichen Querverweisen, historischen Abrissen. Was „Elementarteilchen“ bei der Wiederbegegnung ein Jahrzehnt später vor allem interessant macht, ist der kleine Abriss sexueller Liberalisierung in Mitteleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg, den Houellebecq hier wie nebenbei liefert. Es ist eine Geschichte der Befreiung, wobei „Befreiung“ bei diesem Autor keinerlei positiven Beiklang hat, sondern einfach nur eine neutrale Beschreibung ist. Die Befreiung von Mythen, Ideologien und politischen Utopien sowie die medizinisch immer perfektere Entkoppelung von Fortpflanzung und Sex bringen beim Individuum die Neurosen nicht zum Verschwinden, sondern legen bei ihm den notwendig zwanghaften Charakter erst richtig frei.

„Der letzte Mythos des Abendlandes besagte: Sex ist möglich und gesund“ – und diesem Mythos heißt es nun nachzujagen in einem globalisierten Wettkampf der Leiber. „Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art; sich ein anderes Ziel zu setzen war nicht mehr möglich, das wusste er jetzt.“ Für den Einzelnen kann dieser Wettlauf zum Ziel nur in der Depression enden, denn weil jedem Tag notwendig der körperliche Verfall innewohnt, entfernt man sich auch jeden Tag nur weiter von jenem Ideal der Jugend und Attraktivität, dem man selbst als Objekt der eigenen Begierde unersättlich und unbefriedigbar nachstellt.

Auf Skandal gebürstet

Was es unter diesen Umständen noch geben kann, ist Sex unter den Bedingungen des Zwanges oder des Kaufvertrages – erkauft, erlogen, erschlichen, erlitten. Dass man eine solche Analyse als erzreaktionäre Gesellschaftskritik lesen kann, hat im Übrigen deutsche Leser und Kritiker besonders irritiert, ficht aber in der französischen Szene nicht an, da diese just das Changieren zwischen rechten und linken Positionen und die daraus erwachsende Verwirrung des Publikums hochgradig liebt. Und den Autor selbst stört es am wenigsten: Die Grenzen zwischen seinen Geschichten und sich selbst, seinen Figuren und seiner eigenen Biografie ließ er von Anfang zerfließen im Rahmen einer auf Skandal gebürsteten Selbstinszenierung im internationalen Literaturbetrieb.

Nun muss eine Gesellschaftskritik nicht falsch sein, nur weil sie mit konservativen Bildern und Begriffen arbeitet. Eher stört und befremdet den Leser das Kalkül, mit dem Houellebecq in seiner Geschichte Schwerstarbeit leistet.

Warum es Charlotte Roche an Substanz fehlt

Die obsessive Jagd des Lehrers Bruno nach immer neuen Anlässen und Auslösern der Selbstbefriedigung wirkt irgendwann so künstlich und stilisiert wie Michels notorische Lethargie und Dumpfbratzigkeit. Vollends verliert der Leser die Lust – und die Doppeldeutigkeit der Formulierung ist bewusst gewählt, wenn den beiden Halbbrüdern plötzlich doch noch Hoffnung widerfährt, nämlich in Gestalt zweier keineswegs perfekter, aber doch real existierender Frauen, Christiane und Annabelle, die sie von ihren Zwängen zwar nicht heilen, in deren körperlicher Nähe die beiden Männer aber doch tatsächlich erstmals so etwas wie Berührung, besser gesagt: Berührtwerden verspüren. Man ahnt natürlich, dass dies nicht gut enden wird. Beide Frauen werden schrecklich erkranken, beide sind dem Tod geweiht. Steißbeinnekrose und Gebärmutterkrebs, einfacher ist der Tod bei Houellebecq nicht zu haben. Einer der beiden Brüder wird daraufhin Selbstmord begehen, der andere sich endgültig der Forschung verschreiben, dem Klonen einer neuen, nichtindividuellen, alterslosen Lebensform. Das Ende der Geschichte.

O-Ton Houellebecq: „Alles bricht unweigerlich zusammen.“ Das ist nicht schön zu lesen, aber es ist doch ernüchternd scharf beschrieben. Und zwar so scharf und genau, dass man dem Autor zwar nicht folgen muss, aber man trotzdem versteht, warum es dem postpubertären Sexy-Gequieke einer Charlotte Roche an Substanz fehlt. Ja, Michel Houellebecq hat einige gute Argumente, warum es im 21. Jahrhundert wohl jede Menge Pornografie, aber keine erotische Literatur mehr geben kann. Warten wir ab, ob es irgendjemandem gelingen wird, dies zu widerlegen.