Erstmals seit 2016 fällt eine Provinzhauptstadt in Afghanistan an die Taliban. Die Regierungstruppen leisteten anscheinend keinen Widerstand. Die Lage im Land spitzt sich dramatisch zu.

Kabul - Mit der ersten Einnahme einer Provinzhauptstadt seit 2016 haben die Taliban den Druck auf die afghanische Regierung verstärkt. Sarandsch im Südwesten des Landes sei an die Islamisten gefallen, bestätigte die Vizegouverneurin der Provinz Nimrus, Ruh Gul Chairsad, am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Lokalen Behördenvertretern zufolge fiel die Stadt praktisch kampflos.

 

Zuletzt war 2016 die Provinzhauptstadt Kundus im Norden kurzzeitig von den militant-islamistischen Kämpfern eingenommen worden. Sarandsch ist zwar mit geschätzt 65 000 Einwohnern eine vergleichsweise kleine Stadt in der abgelegenen Provinz Nimrus, aber wegen ihrer Lage an der Grenze zum Iran ist sie ein bedeutender Handelsknotenpunkt und gilt als Zentrum für Schmuggler.

Auch Niederlage für die USA

Der Fall der Provinzhauptstadt ist auch eine Niederlage für die USA, die ihren Militäreinsatz im Land offiziell erst zum 31. August beenden wollen. Das US-Militär unterstützt die unter Druck stehenden afghanischen Streitkräfte noch mit Luftangriffen. Die Flieger steigen außerhalb Afghanistans auf, da die großen Stützpunkte im Land bereits geräumt sind.

Bilder in sozialen Medien zeigten Taliban-Kämpfer vor dem Sitz des Provinzgouverneurs und in den Straßen von Sarandsch. Offenbar drangen die Islamisten zudem in das Gefängnis der Stadt vor. Videos zeigten Menschen, die aus diesem flohen.

Am Donnerstag war zunächst der Bezirk Kang rund 30 Kilometer von Sarandsch von den Taliban erobert worden. Von dort aus seien die Islamisten in Richtung Provinzhauptstadt vorgerückt, hieß es aus Sicherheitskreisen. Viele Sicherheitskräfte hätten ihre Posten noch vor der Ankunft der Islamisten einfach verlassen. Regierungsangestellte seien in der Nacht zu Freitag mit ihren Familien in den nahen Iran geflohen.

160 Bezirke seit Abzug erobertoberung

Seit Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen Anfang Mai haben die Taliban mehr als 160 der rund 400 Bezirke, mehrere Grenzübergänge und Teile wichtiger Überlandstraßen erobert. Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Städte und die Taliban greifen nun mindestens fünf Provinzhauptstädte an. Im Süden steht Laschkargah kurz vor dem Fall an die Islamisten - dort hält die Regierung nur noch zwei der zehn Polizeibezirke der Stadt. Im Zentrum von Schiberghan in der Nordprovinz Dschausdschan lieferten sich Taliban am Freitag vor dem Gouverneurspalast Kämpfe mit den Sicherheitskräften.

Diese Woche reklamierten die Taliban zudem erstmals seit rund eineinhalb Jahren einen großen Angriff in der Hauptstadt Kabul für sich. Ziel war ein Haus des amtierenden Verteidigungsministers.

Die UN hatten im Mai und Juni Rekordwerte verwundeter und getöteter Zivilisten dokumentiert und gewarnt, dass 2021 zum Jahr mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer werden könnte.