Der Entwurf von Lederer Ragnarsdottir Oei für die Erweiterung der Landesbibliothek in Stuttgart bietet mehr als zusätzlichen Platz für Bücher.
Stuttgart - "Oben bleiben!" muss in Stuttgart nicht immer nur der Schlachtruf von S-21-Gegnern sein, "Oben bleiben!" kann auch eine Losung des Landes lauten. Nicht für den Bahnhof natürlich - obgleich Winfried Hermann den Wahlspruch wahrscheinlich liebend gern in Großbuchstaben an sein Verkehrsministerium nageln würde -, sondern auf einem Streckenabschnitt der Innenstadt, der stark beschönigend Kulturmeile genannt wird, in Wirklichkeit aber eine monströse Verkehrsschneise ist: Oben bleiben wollte das Land mit der Erweiterung der Württembergischen Landesbibliothek, die wie fast alle Bauten an diesem Unort eine Etage höher liegt als die Straße. Im Planungswettbewerb jedenfalls wurde den Teilnehmern aufgetragen, den Neubau zu platzieren, wo auch schon das Stammhaus von Horst Linde aus den siebziger Jahren steht: auf dem "oberen Ufer".
Etwas (aber wirklich nur etwas) überspitzt könnte man sagen, dass der Bauherr Land in dieser Stadt stets an der falschen Stelle das Falsche will. Dennoch hielten sich die Wettbewerbsteilnehmer artig an die Vorgabe, oben zu bleiben. Die Entwürfe der drei Finalisten krankten - obgleich im Ansatz sehr unterschiedlich - denn auch allesamt daran, dass sie das Hauptübel Konrad-Adenauer-Straße in seiner heutigen Form als fait accompli akzeptierten. Ein Relikt der autogerechten Stadt von vorvorgestern in Ewigkeit, Amen.
Unwirtlicher, stadtfeindlicher geht's nicht
Wäre es dabei geblieben, dann hätte das zur Folge gehabt, dass Fußgänger an dieser Stelle, die immerhin einige der vornehmsten Stuttgarter Institutionen versammelt, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag an Tiefgarageneinfahrten hätten vorbeilaufen müssen. Unwirtlicher, stadtfeindlicher geht's nicht. Einen "Boulevard", der als Idealvorstellung seit einigen Jahren durch die städtebaulichen Diskussionen über die Kulturmeile geistert, kriegt man so nie hin.
Zum Glück gibt es Architekten, die es besser wissen als der Bauherr und die den Schneid haben, sich notfalls über seine Wünsche hinwegzusetzen. Und zum Glück hat das Preisgericht diesen Schneid am Ende honoriert. In der Überarbeitung gewannen die Stuttgarter Architekten Lederer Ragnarsdottir Oei mit einem Entwurf, der den Bibliothekskörper aus seinem höheren Dasein zurück auf die Erde holt und direkt an die Straße stellt - wo er hingehört. Eine breite Freitreppe führt hinauf zur Linde-Bibliothek und einem großen Platz als urbanem Verbindungselement zwischen Alt- und Neubau.
"Stadt machen"
"Stadt machen", das ist seit langem die methodische Richtschnur der Architekten. Besonders in Stuttgart, wo meist zu viel Wert auf das Einzelbauwerk und zu wenig auf seine städtebauliche Einbindung gelegt wird, folgen sie beharrlich der Maxime "Erst die Stadt, dann das Haus". So haben Lederer Ragnarsdottir Oei auch die bevorstehende Umwidmung des Wilhelmspalais zum Stadtmuseum in ihrem siegreichen Wettbewerbsentwurf nicht nur zur inneren Umgestaltung der bisherigen Stadtbücherei genutzt, sondern den klassizistischen Bau mit einer großen Freitreppe hinunter zur Straße zugleich aus seiner Isolation erlöst. Die Sanierung des Staatstheaters Darmstadt, vom hessischen Kunstministerium zunächst als rein technische Instandsetzung geplant, begriff das Büro vor einigen Jahren als Chance, das Haus, eine Art autistisches Drive-in-Theater aus den siebziger Jahren, zu öffnen und es - zusammen mit einem von den Stuttgartern attraktiv aufgemöbelten Park - der Stadt zurückzugeben.
Nur ein paar Meter voneinander entfernt wird an der Stuttgarter Kulturmeile in Zukunft also zweimal "Stadt gemacht": am künftigen Stadtmuseum und an der Landesbibliothek. Pionier der Bewegung ist indes der Platz mit den blauen Wasserbecken und Sprudlern der Architekten Wilford Schupp zwischen Staatsgalerie und Haus der Geschichte. Rechnet man ihn hinzu, dann sind es sogar schon drei Schritte, mit denen diese Stadtautobahn Stück für Stück reurbanisiert wird. Es macht auch nichts, dass der Verkehr vorläufig in unverminderter Lautstärke und Geschwindigkeit weiterröhrt, so dass man auf diesen Plätzen sein eigenes Wort nicht versteht und wenig Lust verspürt, sich dort aufzuhalten. Viel mehr zählt, dass die Architektur hier nicht auf die Politik gewartet, sondern von sich aus den Grundstein für eine Boulevardisierung der Kulturmeile gelegt hat, und dass sie keine Möglichkeiten verbaut, sondern - im Gegenteil-geschaffen hat.
Der Profit für die Stadt steht außer Frage
Mit einer Bibliothek, die zwar den hohen "Kuchenteller" (Jorunn Ragnarsdottir) verlässt und sich an die Straße stellt, dieser ansonsten aber die kalte Schulter zeigt, wäre allerdings auch noch nicht allzu viel gewonnen. Auf einem städtischen Boulevard muss etwas los sein, man erwartet Anregung und Abwechslung fürs Auge. Ein Konzept wie das der Stuttgarter Architekten Wulf und Partner, die ebenfalls in die Endrunde kamen, greift daher zu kurz, wenn es die Bibliothek zwar ebenfalls von der Konrad-Adenauer-Straße her zugänglich macht, die Treppe aber als schmale Wegverbindung unter dem Neubauriegel hindurchführt. Lederer Ragnarsdottir Oei dagegen geben Passanten etwas zu sehen: Ihr Haus ist - buchstäblich - bodenständig, und es öffnet sich zur Straße mit großen Schaufenstern, die den Blick auf den Ausstellungs- und Veranstaltungssaal freigeben. Mit einem alten Buchtitel von Wolf Jobst Siedler zu sprechen, der in den sechziger Jahren den Verlust urbaner Kultur anprangerte: auf diese Weise kann die "gemordete Stadt" wieder auferstehen.
Neben seinen Stadtmacher-Vorzügen bietet der Erweiterungsbau daneben noch funktionales und ästhetisches Bonusmaterial in Hülle und Fülle. Dazu gehört, dass er in den Altbau nicht eingreift. Theoretisch wäre das möglich, da die Linde-Bibliothek bisher nicht unter Denkmalschutz steht (der in Baden-Württemberg bekanntlich ohnehin wenig Sicherheit bietet), aber die Architekten respektieren sie als ein hochwertiges, intakt zu lassendes Bauwerk seiner Zeit. Der Neubau ist ein solitärer Baukörper, der das auch in seiner unangepassten, eigenständigen Architektursprache mit den Sheds über den Schulungsräumen im obersten Stock als auffälligstem Merkmal zum Ausdruck bringt. Verbunden sind die beiden Häuser am Ende nur über eine Brücke, so dass der Betrieb in der alten Bibliothek während der Bauzeit und bis zum Tag der Eröffnung ungehindert weiterlaufen kann. Alle öffentlichen Flächen - Foyer, mehrfach unterteilbare Ausstellungsräume, Vortragssäle - lassen sich von den Magazin- und Verwaltungsbereichen abkoppeln und daher auch zu den Schließzeiten der Bibliothek gesondert nutzen.
Noch ist die Finanzierung dieses Projekts nicht gesichert. Der Profit für die Stadt steht jedoch außer Frage.
Visualisierung: Aldinger und Wolf
Die Landesbibliothek wächst
Altbau: Die vom Staatlichen Hochbauamt unter seinem Leiter Horst Linde geplante Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart entstand zwischen 1964 und 1970. Beherrschender Bauteil des flach gedeckten und an die Urbanstraße zurückversetzten Komplexes aus Sichtbeton, Klinker und Kupfer ist der vorgeschobene Lesesaal. Die Begrünung des Vorfelds über der Tiefgarage soll den Akademiegarten jenseits der Konrad-Adenauer-Straße optisch bis an die Bibliothek heranführen.
Modelle: Die Wettbewerbsmodelle der drei Finalisten sind im Foyer der Landesbibliothek noch bis Ende Juli ausgestellt.