Kürzlich hat die Autorin Sibylle Lewitscharoff die moderne Fortpflanzungsmedizin öffentlich als „abscheulich“ gegeißelt. Das ist unangemessen, meint der Philosoph Otfried Höffe in seiner Erwiderung.
Stuttgart - Man beklagt heute gern eine Überalterung der Gesellschaft. Wahr ist, dass die Menschen älter werden; sie bleiben aber auch länger körperlich und geistig, nicht zuletzt in ihren emotionalen und sozialen Fähigkeiten frisch. Infolgedessen steigt nicht, was die Diagnose der Überalterung unterstellt, der Anteil an leistungsschwachen Personen. Auch müssen die Kreativität der Gesellschaft und ihre Innovationskraft nicht sinken. Dagegen nimmt dramatisch ab, was jede Gesellschaft bereichert: die Zahl der Kinder und Jugendlichen. Nicht Überalterung bedroht unsere Gesellschaft, sondern die fehlende Verjüngung.
Diese Entwicklung ist zwar nicht so dramatisch, dass sie den Fortbestand der Menschheit gefährdete. Aber die spontane Lebendigkeit geht dort zurück, wo wie in Europa mehr Menschen über sechzig leben als Menschen, die jünger als fünfzehn Jahre sind. Das ist die Situation, in der die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihre Dresdner Rede gehalten hat. Die Rednerin ist zwar weder Medizinerin noch Sozialwissenschaftlerin, auch keine Juristin, Theologin oder Philosophin. Aber als prominente Schriftstellerin, sogar Büchner-Preisträgerin darf man sie zu den einflussreichen Intellektuellen rechnen. Ihr Wort hat Gewicht, ihr Thema, das Ende und der Anfang menschlichen Lebens, noch mehr.
Da fehlt es an „differenzierter Geistigkeit“
Die Erfahrungen, die Lewitscharoff im ersten Teil ihrer Rede sprachmächtig ausbreitet, Überlegungen zum Sterben in Würde und zum guten Tod, regen durchaus zum Nachdenken an. Ihre Aussagen zum Lebensbeginn lassen dagegen vermissen, was man von einer sprachsensiblen, und das heißt doch auch: von einer gegen die komplexen Sachverhalte sensiblen Autorin erwartet. Das wäre als erstes eine sine ira et studio, also von parteilichem Eifern freie Beschreibung der Phänomene, und als zweites bei der persönlichen Einschätzung der Phänomene Toleranz gegen Andersdenkende. Spätestens beim Thema der Leihmutterschaft fragt man sich, wieso der Autorin fehlt, was sie selbst bei anderen vermisst: „jede Form differenzierter Geistigkeit, sprich: Intellektualität“. Sie bezeichnet jede Form der Reproduktionsmedizin als „Fortpflanzungsgemurkse“ und Kindern, die ihr Leben „Machinationen“ wie künstlicher Befruchtung verdanken als „Halbwesen“, wofür sie sich unterdessen entschuldigt hat. Am Donnerstag bekräftigte sie in Köln die „Grundideen“ der Rede und verglich erneut die Reproduktionsmedizin mit „Menschenzucht“ im Nationalsozialismus.
Eine Pflicht, Kinder in die Welt zu setzen, gibt es nicht. Einem neuen Menschen das Leben zu schenken – und „schenken“ ist hier der sachgerechte Ausdruck – sollte jedoch aus vielen Gründen willkommen sein, insbesondere weil man menschliches Leben für lebenswert hält und weil zu allem Leben, auch dem menschlichen Leben, eine zeitliche Endlichkeit gehört, die sich nicht durch die Allmachtsfantasien vom unendlich verlängerbaren Lebens aufheben lässt. Die Menschheit lebt nur fort, wenn sie immer wieder neue Generationen in die Welt setzt.