In einem neuen Ansatz lernen Mütter und Väter, wie sie ihrem Kind gute Eltern sein können. Die betreute Wohngruppe der Evangelischen Gesellschaft in Zuffenhausen hilft jungen Eltern, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.

Stuttgart - Geplant war die kleine Emma (Name geändert) nicht. Doch die muntere und mittlerweile Anderthalbjährige hat das Leben ihrer Eltern grundlegend verändert. Ihre Mama Melinda Ivanovic ist gerade mal 19, ihr Papa Ralf Müller erst 18 Jahre alt (beide Namen geändert). In einer betreuten Wohngruppe der Evangelischen Gesellschaft im Flattichhaus lernen die beiden, erwachsen zu werden. Oder, wie es der Sozialpädagoge Daniel Fischer formuliert: „Sie lernen hier, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.“ Allerdings geschieht das nicht ganz freiwillig.

 

Wie auch die fünf anderen Familien, die hier leben, sind Melinda Ivanovic und Ralf Müller für einige Monate in die Einrichtung nach Zuffenhausen gezogen, weil sonst das Jugendamt die kleine Emma aus der Familie genommen hätte – wegen Gefährdung des Kindeswohls. Seit Juli 2014 leben sie nun dort. „Das Jugendamt hat krass reagiert“, sagt die 19-Jährige.

Nach drei Abmahnungen muss das Heim verlassen werden

Was war geschehen? Mehrfach war die junge Mutter in einem anderen, sozialpädagogisch betreuten Heim auffällig geworden. War mit Alkohol erwischt worden, wurde positiv auf Marihuana getestet und hatte dann auch noch Unfrieden ausgelöst, als sie ihrer Zimmernachbarin den Partner ausspannte. In der Folge kam es zu Schlägereien – nicht nur zwischen den jungen Männern. Ihre Zimmernachbarin erhielt einen Tritt in den Bauch. Melinda Ivanovic schlug den Vater ihres Kindes blutig, und dieser schmiss ein Glas nach ihr. Auch die Polizei musste eingreifen.

Aber die Kleine habe die ganze Zeit seelenruhig geschlafen, versichert Ralf Müller und fährt Emma zärtlich übers Haar. Dem Kind sei nie etwas passiert, beteuert auch Melinda Ivanovic. Allerdings habe sie selbst einen Gedächtnisverlust gehabt – „mir ging’s richtig scheiße“, sagt die junge Frau. Vom Heim bekam sie drei Abmahnungen und flog dort raus.

„Das Jugendamt hat gesagt, hier ist meine letzte Chance“, berichtet die 19-Jährige. Die Wohngruppe im Flattichhaus arbeitet nach einem neuartigen Konzept. Es nennt sich systemische Interaktionstherapie und -beratung. Es gebe keine Kinderbetreuung und keinen erhobenen Zeigefinger, sagt Jens Hartwig, Sozialarbeiter und Bereichsleiter bei der eva. „Keiner sagt, so geht’s.“ Es sei nur etwas für Familien, die schwierige Situationen mit ihren Kindern erleben „und was verändern möchten.“

Väter und Mütter formulieren ihre Ziele auf Plakaten

Schwierige Situationen würden in Form von Rollenspielen nachgespielt, samt Perspektivwechsel: Wie fühlt sich das Kind? Die Mutter? Der Vater? Oft fehle solchen Familien ein Handlungsinstrumentarium, selbst für vermeintlich einfache Dinge. Verwahrlosung geschehe nicht aus Boshaftigkeit. „Manche Eltern wissen nicht, dass Förderung des Kindes auch bedeutet, es anzuschauen, es anzulächeln und mit ihm zu sprechen ohne zu brüllen.“

In dem Elternwohnzimmer hängen Plakate an der Wand, auf denen die Väter und Mütter ihre Ziele formuliert haben. „Ziel: Harmonisches Familienleben, gegenseitiges Verständnis“, steht auf einem Plakat. Auf einem anderen: „Ich liebe meine Kinder über alles. Sie geben mir die Kraft, jeden steinigen Weg zu gehen.“ Und, ein weiteres Ziel: „Ein glückliches Zusammenleben mit meinen Kindern ohne Druck vom Jugendamt und negativer Rückmeldung von der Kita und anderen.“

„Ohne Druck vom Jugendamt hätte manche Familie ihr Kind verloren“, sagt Hartwig. Doch was ist das Besondere an dem Betreuungskonzept? Es fange schon bei der Sprache an. „Keiner sagt hier, Ihr Kind ist durchgeknallt“, erklärt Hartwig. „Sondern: Sie erleben das Verhalten Ihres Kindes gerade als nicht gut.“ Der Grund für eine solche Formulierung leuchtet ein: „Ist-Zustände werden als unveränderbar wahrgenommen“, so Hartwig. Bei momentanen Situationen sei das etwas ganz Anderes. „Wir versuchen, Eltern zu verstehen – nicht zu bewerten“, sagt Fischer.

Das mit der Sprache finden Ivanovic und Müller zwar etwas ungewöhnlich. Aber es zeigt offenbar bereits Wirkung. „Wir haben hier die Redensarten angenommen“, sagt die 19-Jährige. „Irgendwie hat sich alles verändert durch die guten Gespräche.“ Müller formuliert das so: „Wir streiten jetzt anders. Wir gucken, dass wir so reden, dass der andere nicht hochgeht.“ Auch die Elternrunden mit den anderen Eltern brächten „schon was“, so Ivanovic. „Alle wissen, dass sie sich auf dünnem Eis bewegen.“

Dass die Betreuer sie siezen – „das war mir am Anfang nicht geheuer“, räumt Melinda Ivanovic ein. Aber in dem Heim, wo sie vorher war, „wurde man behandelt wie junge, dumme Eltern – hier wird man als Erwachsener angesprochen, so kommt man auch ins Erwachsensein“.

Kein Alkohol, keine Drogen, keine Gewalt

Auch im Flattichhaus gelten klare Regeln: kein Alkohol, keine Drogen und schon gar keine Schlägereien. Als Ralf Müller sich mal ein Bier genehmigte und der Betreuer es merkte, musste er für einen Tag das Heim verlassen und bei seinen Eltern schlafen. „Das war eigentlich gut“, meint seine Partnerin.

Mitte April werden die beiden die Wohngruppe verlassen und eine eigene Wohnung beziehen. Die Kaltmiete bezahle das Jobcenter. Für die Warmmiete sollen und wollen die beiden selbst aufkommen. Müller, der nach Hauptschulabschluss und einem Freiwilligen Sozialen Jahr im Krankenhaus seit September 2014 arbeitslos ist, fängt dann mit einem Aushilfsjob als Verkäufer an, am 1. August beginne seine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann. Und Ivanovic, die nach dem Hauptschulabschluss ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im Altenheim gemacht hat, wird im Herbst eine Ausbildung als Altenpflegerin anfangen. Die kleine Emma wird dann von einer Tagesmutter betreut. Den Kontakt mit dem Flattichhaus wird die Familie halten. Ihr Zimmer dort wird gleich wieder belegt. Drei bis vier Familien stehen für die Wohngruppe auf der Warteliste. Alles Väter und Mütter, die ihre Kinder behalten wollen. Oder, wie Müller sagen würde, die das Jugendamt loswerden wollen.