Die ESC-Fans treffen ein sensationell klares Votum und machen die Ukraine zum Sieger in Turin – und darüber freut sich sogar der Letztplatzierte des Wettbewerbs: Malik Harris aus Deutschland.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Klarer hätte das Votum der über 200 Millionen Zuschauer des 66. Eurovision Song Contest am Samstagabend im Turin nicht sein können: Während die ukrainische Band Kalush Orchestra nach der Abstimmung der 40 nationalen Fachjurys zwar einen guten vierten Platz belegte, aber dabei fast hundert Punkte Abstand zum Spitzenreiter Großbritannien aufwies, ernteten die Ethno-Rapper im zweiten Abstimmungsteil von den ESC-Fans sensationelle 439 von 468 möglichen Punkten – ein so eindeutiges Ergebnis für einen einzelnen Beitrag hat es in der ESC-Geschichte zuvor noch nie gegeben.

 

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Zweifellos drückt sich in diesem Triumph nicht nur die Qualität des musikalisch ebenso kraftvollen wie eingängigen Titels „Stefania“ aus, der es zu normalen Zeiten aber auch sicher in die Top Ten geschafft hätte. Entgegen dem Reglement des Wettbewerbs, das politische Äußerungen auf der Bühne strikt untersagt, hatte Kalush-Gründer Oleh Psiuk am Ende ihres Auftritts nicht nur für die Solidarität mit der Ukraine gedankt, sondern auch um sofortige Hilfe für Mariupol und „für die Asow-Werke“ gebeten. Das Publikum in der Turiner Palaolimpico-Halle und die übrigen ESC-Kandidaten applaudierten danach noch lange Zeit im Stehen.

Malik Harris hat Talent, aber kann nicht überzeugen

Im Gesamtergebnis siegte Kalush Orchestra mit 631 Punkten (Jurys plus Televoting) klar vor dem Briten Sam Ryder (466), der Spanierin Chanel (459) und der Schwedin Cornelia Jakobs (312). Der deutsche Beitrag „Rockstars“ von und mit Malik Harris lag schlussendlich mit 6 Punkten auf dem letzten Platz 25 – die vierzig Fachjurys hatten den deutschen Sänger sogar völlig punktlos durchgewunken.

Überraschen konnte dieses erneute ESC-Debakel für Deutschland aber nicht: Der sympathische 24-jährige Nachwuchssänger aus Landsberg hat zweifellos Talent, aber im direkten Vergleich mit zahlreichen hochprofessionellen Acts aus anderen Ländern wirkte sein Beitrag sehr zahm und handgestrickt – und ein viel zu langer Mittelteil aus Sprechgesang verstärkte noch die abschreckende Wirkung. Harris selbst nahm seine Niederlage gelassen und bekundete vor allem Freude über den Sieg der Ukraine.

Am Montag zurück in die Ukraine

Die sechs Musiker von Kalush Orchestra zeigten sich nach ihrem Gewinn tief bewegt. „Dieser Sieg ist für alle Ukrainer“, sagte Bandchef Oleh Psiuk auf einer Pressekonferenz. Bereits am Montag – Psiuk wird dann 28 Jahre alt – werde man zurück in die Heimat reisen, weil dann die Sondergenehmigung zum Auslandsaufenthalt ende und sie ihren Dienst für die Landesverteidigung fortsetzen müssten. „Wir sind bereit, so viel zu kämpfen, wie wir können, und bis zum Ende zu gehen“, erklärte er weiter. „Alle meine Freunde und Familie und Lieben sind sowieso in der Ukraine, egal, wo ich bin.“ Manchmal sei es noch tröstlicher, dort mit ihnen zusammen zu sein.

In der Ukraine selbst war, soweit möglich, die Freude über den dritten Sieg der Ukraine in der ESC-Geschichte groß. „Das ist unser gemeinsamer Sieg für unsere Ukraine. Das ist ein Sieg im Gedenken an alle, die umgekommen sind“, sagte der Moderator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Timur Miroschnytschenko; danach brach er in Tränen aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj gratulierte Kalush Orchestra auf Facebook: „Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa“. Man sei entschlossen, im kommenden Jahr „in Frieden“ Gastgeber des dann 67. ESC zu sein.

„Stefanie“ wird nun der Name einer Zugverbindung

Derweil teilte der Chef der ukrainischen Bahn mit, dass künftig eine Zuglinie zwischen der Stadt Kalush im Südwesten des Landes und Kiew „Stefania-Express“ heißen soll. Auf den Bahnhöfen soll beim Eintreffen des Zuges der ESC-Song erklingen.