Sechs Bewerber, die keiner kennt, machen sich beim ESC-Vorentscheid an eine heikle Aufgabe: Deutschland zurück auf den letzten Platz beim ESC zu dudeln. Die Chancen stehen nicht schlecht.

Berlin - Wenn Erwartungen erfüllt werden, ist das eigentlich ein Grund zur Freude. Nach der feuerroten Laterne von 2015, die der ebenso signalfarbigen Leuchte des darauffolgenden Jahres vorausgegangen war, stand im beim ESC im Mai 2017 das Triple in Aussicht: Dreimal in Folge allerallerletzter Platz beim Eurovision Song Contest! Nicht einmal Finnland und die Türkei, diese phonetisch gehandicapten Dauerloser jener Epoche, als beim Grand Prix Eurovison de la Chanson – wie er damals nur genannt wurde – ausschließlich in der Landessprache gesungen wurde, hatten es geschafft, den Song-Wettbewerb dreimal am Tabellenende zu beschließen.

 

Und was bitte macht Levina im vergangenen Jahr? Wird Vorletzte!

Kein Eintrag ins Geschichtsbuch also für die hübsche, aber überforderte Isabella Levina Lueen, von der weder vor noch nach dem Debakel von Kiew irgendjemand außerhalb ihres engeren Umfelds gehört hat. Dabei fehlte nur ein Punkt, ein kümmerlicher Punkt, um mit dem spanischen Verlierer Manel Navarro gleichzuziehen. Welch eine Tragik. Die will der NDR beim diesjährigen Vorentscheid fürs ESC-Finale am 13. Mai in Lissabon aber keinesfalls wiederholen. Das organisatorisch verantwortliche Funkhaus mit Sitz in Hamburg setzt alles daran, eine neue Niederlagenserie zu starten. Die Chancen dafür stehen glänzend.

Von Hipster über Zausel bis Freak – mit und ohne Migrationshintergrund

Zur Wahl stehen wie immer, seit Stefan Raab die Finger vom heißen Eisen ESC lässt, bühnengerechte Figuren des globalen Melodrama-Pop von Hipster über Zausel bis Freak – mit und ohne Migrationshintergrund. Nach Herkunft, Wohnort und Chromosomensatz paritätisch besetzt, ist mal wieder für fast jeden Geschmack etwas dabei, bis auf den guten.

Sie heißen zwar nicht Cascada, Elaiza, Ann Sophie oder Jamie-Lee wie in den Jahren zuvor. Heuer gehen Xavier, Ivy, Michael, Natia, Ryk ins Rennen. Bis auf letzteren dürfen sie sogar Nachnamen haben, die aber schon deshalb ein bisschen egal sind, da bis auf letzteren offenbar keiner sein Lied selber geschrieben hat. Allein hinter dem Song „I mog di so“ von voXXclub stehen neun Autoren.

Eine internationale Jury hat die Bewerber ausgewählt

Gecastet wurden die Bewerber von zwanzig Vertretern des Musik-Business und hundert ESC-Kennern, darunter rumänische Konzertveranstalter und britische Vocal-Coaches, isländische Musikagenten und slowenische Flötistinnen, iberische Popstars und der teutonische Rapper Ferris MC. Aus Sicht der ARD repräsentiert die Jury „bestmöglich den Musikgeschmack der internationalen Fernsehzuschauer“, was der zuständige Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber einen „radikalen Neuanfang“ nennt.

Er habe „alles auf den Prüfstand gestellt“, dazu „externen Rat und Kritik eingeholt“, betont der Mann mit dem mausgrauen Glamour eines Assekuranz-Archivars. Ist also echt, alles radikal neu, wenn Levinas Nachfolger heute in Berlin um die Goldene Ananas der hiesigen ESC-Teilnahme kämpfen?

Mit Grausen erinnern sich die Fans zurück an Xavier Naidoo

Schwer zu sagen, denn nach welchen Kriterien rund 4000 Kandidaten zunächst auf zwanzig und dann sechs reduziert wurden, ist abermals so dubios, dass selbst einer der Siegreichen perplex war über seine Teilnahme. Rick Jurthe alias Ryk hat seinem Hannoveraner Heimatblatt erzählt, er wisse gar nicht genau, wie er in den Vorentscheid geraten sei. Aber gut, trat er eben an, schmachtete sich durch die Vorrunden, stellt sich heute Abend dem vorfinalen Urteil und will es dem Vernehmen nach hoch motiviert akzeptieren, wenn ihn Jury und Publikum nach Portugal schicken. Was schon mal ein echter Fortschritt wäre.

Mit Grausen erinnern sich die Fans an den Februar 2016. Nach Ann Sophies Null-Punkte-Desaster von Wien 2015, nominierten die aufgescheuchten Macher vom NDR eigenmächtig Xavier Naidoo als deutschen Teilnehmer für den ESC in Stockholm. Dank heftiger Proteste wurde die Farce seinerzeit durch einen Vorentscheid ersetzt. Doch aus dem ging dummerweise gleich die nächste ESC-Havarie hervor. Mit Musik hatte es Jamie-Lee jetzt zwar nicht so. Dafür trug sie in Stockholm ein ulkiges Manga-Kostüm. Der Lohn: elf Punkte und der letzte Platz. Sollte Deutschland Stefan Raab vielleicht doch brauchen?

Lena Meyer-Landrut errang 2010 in Oslo mit „Satellite“ den ersten Platz

Als sich diese ProSieben-Ikone 2009 erbarmt hatte, dem öffentlich-rechtlichen Altersheim kommerziellen Schwung zu verleihen, erschuf die Castingshow „Unser Star für Oslo“ schon im Jahr darauf den ersten deutschen Sieg seit Nicoles „Ein bisschen Frieden“ 1982. Lena Meyer-Landrut errang mit „Satellite“ den ersten Platz. Doch schon beim Projekt Titelverteidigung fiel den deutschen ESC-Verantwortlichen nichts besseres ein, als Meyer-Landrut noch einmal antreten zu lassen. Es folgte ein Trauerspiel nach dem nächsten, bald wieder allein vom NDR verantwortet, aber koproduziert von der Fernsehfabrik Brainpool.

2013 tauschte eine fünfköpfige Jury den Publikumsfavoriten LaBrassBanda gegen die Lalala-Blondine Cascada aus, deren seichter Dancepop „Glorious“ beim Finale in Dänemark immerhin 18 Punkte zuteil wurden, also leider nicht der angepeilte letzte Platz. Den schaffte zwei Jahre später Ann Sophie, weil der ursprünglich gewählte und talentierte, aber krankhaft schüchterne Sieger Andreas Kümmert dankend verzichtet hatte. Moderiert wurde der Vorentscheid damals übrigens von Barbara Schöneberger. Sie verlieh dem staubigen Wettbewerb eine Portion Grandezza. Und am Donnerstagabend in Berlin? Übernehmen Elton und Linda Zervakis.