Erreicht wurde mit dem Betreuungsgeld bisher nur, dass weltanschauliche Gräben wieder aufgerissen wurden. Dabei müsste das Land angesichts der eklatanten Misserfolge in der Familien- und Bildungspolitik ganz andere Wege gehen, meint StZ-Redakteurin Barbara Thurner-Fromm.

Stuttgart - Vor 25 Jahren hat eine Freundin, Mutter von einjährigen Zwillingen, in Stuttgart eine Kinderbetreuung gesucht, die ihr ermöglichen sollte, in ihrem Beruf zu bleiben, in dem sie regelmäßig bis 18.30 Uhr arbeiten musste. Es gab keine. Es gab zwar Kindergärten mit Öffnungszeiten von 8 bis 12 und von 14 bis 16 Uhr. Aber keine einzige öffentliche oder betriebliche Einrichtung, die ihren Erfordernissen gerecht geworden wäre. Sie hat es trotzdem geschafft, die Zwerge großzuziehen und im Job zu bleiben – mit Hilfe einer aus ihrem versteuerten Einkommen bezahlten Tagesmutter, Schwiegereltern, dem Verzicht auf alles, was jenseits von Familie und Beruf lag, oft genug mit hängender Zunge, chronischer Müdigkeit und schlechtem Gewissen. Die Mehrzahl der Mütter dieser Generation hat aber vor solchen real existierenden Verhältnisse kapituliert; die meisten Frauen sind aus dem Beruf ausgestiegen und – mangels Ganztagesschulen – erst nach Jahren allenfalls halbtags wieder zurück gekommen, derweil der Karrierezug lang schon abgefahren war.

 

Heute, eine Generation später, gehören sie zu den Frauen, denen trotz aller gesellschaftlich bedingten Entbehrungen in der Rente nur je ein Jahr Erziehungszeit gutgeschrieben wird, weil ihre Kinder vor 1992 geboren sind. Jüngere Mütter erhalten drei Jahre. Die Frauenunion in der CDU fordert schon seit Jahren und auch in der aktuellen Debatte um Altersarmut und Familienpolitik wieder, dass diese Ungerechtigkeit endlich beseitigt wird. Doch durchgedrungen sind die Christdemokratinnen damit weder bei ihrer Kanzlerin noch bei der CSU. Gerechtigkeit, so steht zu befürchten, werden diese frühen Mütter nicht mehr bekommen; ihr Anliegen bekam beim jüngsten Koalitionsgipfel einen „Prüfauftrag“. Das ist etwas verklausuliert, der „Kanzleitod“: Kein Geld dafür da. Statt dessen bekommt Deutschland, was es – wie Umfragen belegen – mehrheitlich gar nicht will: das Betreuungsgeld. Und von den älteren Mütter, die naturgemäß große Rentenlücken haben, bekommen vielleicht ein paar, wenn sie Glück und die zahlreichen Bedingungen erfüllt haben, die nur dem Zweck dienen, den Empfängerkreis klein zu halten, acht oder zehn Euro „Lebensleistungsrente“. Das ist kein Witz, sondern schwarz-gelbe Familienpolitik anno 2012.

Einst auf Stoibers Mist gewachsen

Das Betreuungsgeld ist – wie der „Spiegel“ gerade noch einmal sehr schön nachgezeichnet hat – eigentlich nichts anderes als ein Überbleibsel aus der Regierungszeit von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, kombiniert mit der Angst der CSU vor dem Machtverlust bei der Landtagswahl 2013 und der Feigheit zahlreicher politischer Entscheidungsträger in Berlin, denen ihr ganz persönliches Hemd allemal näher ist als der politische Rock. Und so kann –. oder eher muss – Finanzminister Wolfgang Schäuble noch einmal 1,2 Milliarden, die das Betreuungsgeld nach Regierungsangaben kosten wird, auf die 184 Milliarden Euro draufpacken, die es bisher schon an staatlichen Familienleistungen gibt. 184 Milliarden Euro vom Kindergeld über Bildungsgutscheine für Schüler armer Eltern bis hin zu Zuschüssen für Beamtenkinder – kein anderes europäisches Land gibt so viel Geld für Familien aus. 184 Milliarden, von denen allerdings noch immer nicht gesagt werden kann, ob sie zielführend sind und wie sie wirken.

Die frühere SPD-Familienministerin Renate Schmidt war die erste, die all die bis dahin aufgelaufenen Förderinstrumente auf ihre Tauglichkeit hin prüfen lassen wollte. Doch bis zum Ende ihrer Amtszeit 2005 gab es den Transparenz schaffenden Bericht ebenso wenig wie in den folgenden vier Jahren unter Ursula von der Leyen. Und auch deren Amtsnachfolgerin Kristina Schröder befasste sich lieber mit andern Themen – der Abrechnung mit dem Feminismus etwa und ihrem Kampf gegen Quoten für Frauen in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft. Am Schluss stimmten die beiden christdemokratischen Politikerinnen der neuen Leistung jedenfalls trotzdem zu – obwohl von der Leyen vehement gegen das Betreuungsgeld kämpfte und die junge Mutter Schröder als zuständige Ministerin es eher verschämt in ein Gesetz goss.

„Das sind doch Kinkerlitzchen“

Dem Darmstädter Sozialrichter und bundesweit anerkannten Familienexperte Jürgen Borchert kommt ob solcher Polit-Stümperei die Galle hoch. „Das sind doch Kinkerlitzchen“, schimpft er über das Betreuungsgeld, und seine Anmerkung zur Begründung der Bundesregierung, erst damit erhielten Eltern Wahlfreiheit, ist nicht zitierfähig. Für den Sozialrechtler geht die Debatte über die neue Leistung komplett an den wahren Problemen vorbei. „Horst Seehofer ist Politiker, und Politiker wollen die Spendierhosen anhaben, um ihre Omnipotenz zu beweisen“, lautet sein Verdikt. „Doch da wird als Geschenk deklariert, was nichts anderes ist als die Rückgabe von Diebesgut.“ Denn den Familien werde durch Steuern und Sozialabgaben zuvor im Vergleich zu Kinderlosen überproportional viel aus der Tasche gezogen.

Seit 20 Jahren kämpft der 61-Jährige gegen die strukturelle Benachteiligung von Familien. Das Trümmerfrauen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem erstmals die Erziehungsleistung rentenrechtlich anerkannt wurde, geht auf seine Initiative zurück, ebenso das Karlsruher Pflegeurteil, das dazu führte, dass Kinderlose 0,25 Prozent mehr Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen als Eltern. Er ist auch spiritus rector einer vom Katholischen Familienbund unterstützten Klage einer Familie mit mehreren Kindern, die inzwischen beim Bundessozialgericht in Kassel liegt: Es geht darin um die Forderung der Karlsruher Richter in ihrem Pflegeurteil, die Erziehungsleistung der Eltern gegenüber Kinderlosen nicht nur bei der Pflege-, sondern auch bei der Kranken- und Rentenversicherung angemessen zu berücksichtigen. Bisher, so Borchert, habe sich die Politik aber geweigert, das zu tun. Thorsten Kingreen, Professor für öffentliches Recht an der Universität Regensburg, der die Kläger vertritt, bezeichnet das als „Grundrecht der Eltern auf intragenerationelle Gleichbehandlung“. Übersetzt heißt das: Der Staat muss Menschen einer Generation gleichstellen. Eltern sind dies aber gegenüber Kinderlosen nach Überzeugung Borcherts aber nur dann, wenn von ihrem Bruttoeinkommen nicht nur bei der Einkommensteuer das Existenzminimum für die unterhaltsberechtigten Familienmitglieder abgezogen wird sondern auch bei den Sozialabgaben. Und er verweist darauf, dass mehr als die Hälfte der staatlichen Einnahmen aus indirekten Verbrauchssteuern stammen – unter denen leiden aber besonders Familien, weil sie einen höheren Bedarf haben. Auch dies müsste berücksichtigt werden. „Kinder sind Investitionen in die Zukunft. Das muss endlich anerkannt werden“, fordert Borchert.

Frankreich macht Familiensplitting

Frankreich ist zumindest bei der Einkommensteuer schon lange erfolgreich in diese Richtung gegangen. Dort gibt es ein Familiensplitting: Wie in Deutschland gibt es für den Ehepartner den Faktor eins; für das erste und das zweite Kind jeweils den Faktor 0,5 und vom dritten Kind an wieder den Faktor eins. Das führt nicht nur dazu, dass viele Familien praktisch steuerfrei bleiben. Die Geburtenrate liegt höher als in Deutschland, und es gibt auch mehr kinderreiche Familien als hierzulande. Während in Deutschland rund 26 Prozent der 1960 geborenen Frauen lebenslang kinderlos bleiben, sind es in Frankreich nur zehn Prozent. Gleichwohl gibt Frankreich nicht mehr, sondern weniger staatliche Mittel aus als Deutschland. Viel hilft viel stimmt als politische Maxime also nicht, entscheidend ist, dass die Mittel zielgerichtet eingesetzt werden. Und auch da schneidet Deutschland nicht gut ab: 14 Prozent aller Kinder leben inzwischen von Sozialgeld. Dabei haben viele Studien gezeigt, dass sich bei Kindern, die in Armut und damit fast immer auch mangelhaften Bildungschancen aufwachsen, sich die Perspektivlosigkeit verfestigt.

Alte Schützengräben

Angesichts dieser Befunde fragt man sich schon, ob die Politik tatsächlich nichts besseres zu tun hat, als alte gesellschaftspolitische Schützengräben wieder auszuheben, die – seit wenigen Jahren – endlich! – zugeschüttet schienen. Aber genau das ist mit der Debatte um das Betreuungsgeld geschehen: durch den gehässigen Begriff der Herdprämie, mit dem die Opposition die Regierungsparteien ärgern will, aber zugleich auch all die Frauen diskriminiert, die bei ihren kleinen Kindern bleiben wollen. Im Gegenzug haben die Konservativen diejenigen, die statt des Betreuungsgeldes den Ausbau der Kitas und Krippen anmahnten, verdächtigt, sie lieferten karrieregeil und herzlos ihre Kinder staatlicher Minimalbetreuung aus. Sogar die DDR musste als Feindbild dafür wieder auferstehen. Dabei ist der Treppenwitz, dass die 100 und später 150 Euro im Monat gar nicht nur Hausfrauen bekommen, sondern auch jene erwerbstätige Karrierefrau, die ihr Kind exklusiv von einer Nanny betreuen lässt – aber eben in der eigenen Villa und nicht in einer Kita mit anderen. So viel zur Zielgenauigkeit schwarz-gelber Familienpolitik.

Dabei ist es höchste Zeit, die Weichen in der Familienpolitik endlich auf Erfolg zu stellen. Neben einer fairen und transparenten Steuergesetzgebung gehört dazu zweifellos der überfällige Ausbau einer familiengerechten Infrastruktur. Und davon ist Deutschland noch weit entfernt. Bisher haben die Eltern von Kleinkindern zwar von August 2013 an einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für ihre einjährigen Kinder. Diesem Rechtsanspruch wurde ein Deckungsgrad von 39 Prozent zugrunde gelegt. Doch selbst für diese politisch gegriffene Zahl fehlen noch mehr als 200 000 Plätze. Die sind nach Meinung der Experten in einem halben Jahr auch nicht mehr zu bewerkstelligen – Überlegungen, Kinder dann eben auch in provisorischen Wohn-Containern betreuen zu lassen zeigen doch nur, wie verzweifelt die Gemeinden ob des erwartbaren Desasters schon sind.

Ein großer Aufbruch täte not

Dabei gehen die Kommunen davon aus, dass dieser Deckungsgrad zu niedrig gegriffen ist. Der Präsident des Deutschen Städtetags, Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, sagte dieser Tage, vor allem in den großen Städten „liegt der Bedarf oft zwischen 40 und 50 Prozent, zum Teil sogar über 60 Prozent“. Dann haben die Eltern zwar einen Rechtsanspruch und können klagen, einen Platz für ihre Kinder haben sie aber immer noch nicht. Spätestens, wenn die Kommunen von einer Welle von Schadensersatzforderungen überschwemmt werden, dürfte das Gerede der Union von der sagenhaften Wahlfreiheit dank des Betreuungsgeldes als Mär entlarvt sein.

Was also ist zu tun? Eigentlich wäre in dieser Situation die Stunde für einen großen gesellschaftlichen Aufbruch: Dieses Land will Kinder; es braucht sie. Dieses Land will, dass junge Menschen, die eine eigene Familie gründen möchten, sich ihren Lebenswunsch erfüllen können. Und dieses Land will, dass die Erziehung und Bildung von Kindern endlich die Anerkennung erfährt, die sie verdienen. 100 oder 150 Euro pro Monat, die nur über neue Bürokratie verteilt werden können, sind das Gegenteil von all dem. Das Gegenteil von Aufbruch ist freilich auch die aktuelle Forderung des Arbeitgeberverbandes, die staatliche Erziehungszeit, die jungen Familien drei Jahre einen geschützten Raum gibt, auf ein Jahr zu verkürzen, um Frauen schneller in den Erwerbsprozess zurück zu bringen. Wenn Familien eines nicht brauchen, dann ist das mehr Druck; ihre Belastungen zerren genug an ihren Nerven.

Im permanenten Notbetrieb

Nein, ein Signal dafür, dass Erziehung, Betreuung und Bildung in den ersten Lebensjahren wirklich wichtig genommen wird, wäre eine Offensive für Kita-Mitarbeiter. Es ist doch bezeichnend, dass nur 3,6 Prozent der Beschäftigten in Kindertagesstätten männlich sind. Selbst wenn man zugrunde legt, dass dahinter auch traditionelles Rollendenken steckt, so ist eines ganz simpel: Erzieherinnen in Baden-Württemberg erhalten im Durchschnitt 2200 Euro brutto. Und die Aufstiegschancen sind mäßig. Das ist kein Anreiz, sich diesen Beruf auszusuchen. Eine weitere Zahl belegt die Geringschätzung der Arbeit mit kleinen Menschen: Zwar ist unbestritten, dass die wesentlichen Bildungsgrundlagen in den ersten Lebensjahren gelegt werden und vieles, was in dieser Zeit versäumt wird, später nur schwierig oder gar nicht mehr nachgeholt werden kann. Aber nach aktuellen Schätzungen des Deutschen Jugendinstitutes qualifizieren sich aktuell nur 1600 junge Leute mit einem (Fach-)Hochschulstudium als frühpädagogische Fachkräfte. Damit sind sie gegenüber den rund 16 000 Erzieherinnen und Erziehern, die in Fachschulen ein Diplom machen, nur eine kleine Minderheit.

Dieser Tage haben sich Stuttgarter Elternbeiräte an den Jugendhilfeausschuss gewandt, weil die Kitas sich wegen akutem Erziehermangel „im permanenten Notbetrieb“ befänden. Eltern, die Schicht arbeiten müssen, bekämen keinen adäquaten Platz für ihr Kind – deutscher Alltag in einer reichen Stadt. Und die Sozialbürgermeisterin antwortet, dass sie den gefrusteten Eltern „in keinem Punkt widersprechen könne“. Das mag ja erfrischend ehrlich sein, aber es macht einen wütend. Wütend auf Bund, Länder und Gemeinden, die angesichts dieser real existierenden Trostlosigkeit nur im Sinn haben, wie sie den Schwarzen Peter weiter reichen können. Wütend auf die Duldsamkeit von Eltern, die sich das noch immer bieten lassen. Wütend auf ein Land, das Banken rettet und Europa, Hoteliers oder die CSU und dabei seine Kinder vergisst.

Eltern, Kinder und der Job

Kinder und Beruf gehören für immer mehr Familien zusammen. Der Effekt lässt sich aus der Statistik zum Elterngeld ablesen. 66 Prozent der 152 000 Mütter, die im zweiten Quartal 2011 ein Kind bekamen und danach Elterngeld erhielten, hatten zuvor gearbeitet. 2008 war das nur bei 55 Prozent der Frauen der Fall. Bei im Jahr 2009 geborenen Kindern hatten rund 59 Prozent der Frauen gearbeitet, bei im Jahr 2010 geborenen Kindern 61 Prozent.
Auch bei Vätern zeigt sich diese Tendenz. Aktuellen Zahlen zufolge hatten 89 Prozent der 43 000 Väter mit Elterngeld zuvor gearbeitet – im Gegensatz zu 82 Prozent im Jahr 2008. Zugleich steigt der Anteil der Väter, die für ihre Kinder eine Auszeit nehmen. Inzwischen liegt sie bei 27,3 Prozent – das ist ein neuer Höchststand.