Wenn eine Ehe zerbricht, zerbricht oft eine ganze Familie. Was das für die betroffenen Kinder bedeutet, wird meist unterschätzt. Was können Eltern tun? Die StZ-Autorin Sabine Klüber hat sich bei Experten erkundigt.

Stuttgart - Tamara Schröder und Nina Becker (Namen von der Redaktion geändert) waren typische Scheidungskinder: Der Vater hatte die Mutter mit einer anderen Frau betrogen, darauf folgte die Trennung und schließlich die Scheidung. Beide sind bei ihren Müttern aufgewachsen. Beide haben noch je eine Schwester. Tamara ist 38, Nina 36 Jahre alt. Beide sind heute selbst verheiratet und haben jede eine kleine Tochter. Wie haben sie die Scheidung ihrer Eltern erlebt? Hat sie das Erlebte fürs Leben geprägt?

 

„Auf jeden Fall“, sagt Tamara, die bei der Trennung ihrer Eltern zehn Jahre alt war. „Seit diesem Erlebnis komme ich häufig in Situationen, in denen ich – wie damals – zwischen den Stühlen sitze, Vermittler spielen oder mich für eine Seite entscheiden muss.“ Mehr noch als unter der plötzlichen Abwesenheit des Vaters habe sie damals unter den Hasstiraden gelitten, zu denen Mutter und Großmutter sich immer wieder hinreißen ließen. „Mein Vater hieß zu Hause irgendwann nur noch ‚das Arschloch‘ und seine neue Freundin und spätere Frau war natürlich ein Flittchen.“ Um den Rest ihrer Familie – Mutter, Oma und Opa, die gemeinsam in einem Haus wohnten – nicht auch noch zu verlieren, habe sie sich gezwungen gefühlt, in die Beschimpfungen mit einzustimmen und ihrem Vater während des Scheidungsprozesses sogar ins Gesicht zu sagen, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle. „Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber ich hatte das Gefühl, mich gegen ihn entscheiden zu müssen, um den Rest meiner Familie behalten zu dürfen.“

Oft werden die Kinder zu Rache-Vehikeln

Dieter Katterle, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Nürnberg, erlebt in seiner Praxis auch heute noch Eltern, die sich ähnlich verhalten, und sieht darin ein schwerwiegendes Problem. „Das Kind in dieser Weise zu instrumentalisieren, ist seelischer Missbrauch“, sagt er. „Kinder müssen in solchen Fällen nicht nur mit dem Schmerz der Trennung und dem Verlust eines Elternteils umgehen, sondern werden vom anderen Elternteil auch noch als Rache-Vehikel missbraucht.“ Damit beginne in vielen Fällen ein lebenslanges Leiden, das zu seelischen Erkrankungen, Bindungsproblemen und weiteren Scheidungs- und Trennungsdramen führen kann. „Das Schlimme und gesellschaftlich Fatale dabei ist, dass auch heute noch viele Eltern nicht wissen, dass man sein Kind nicht in die eigenen Rache- und Hassgedanken verstricken darf, sondern sogar oft meinen, sie handelten zum Wohle ihres Kindes, wenn sie den einstigen Partner dämonisieren und den Kontakt zu ihm zerstören.“ Eltern müssten noch sehr viel besser informiert und aufgeklärt werden, wie man mit seinen Kindern im Fall einer Trennung umgeht und mit sich selbst im Fall einer Lebenskrise, so der Psychologe.

Wie sehr sich Tamaras und Ninas Geschichten auch gleichen, in der Bewertung der Scheidung für das eigene Leben gehen die beiden Frauen klar auseinander. „Ich habe sehr wenig Erinnerung an die Zeit, als sich meine Eltern trennten“, sagt Nina mit einem Schulterzucken. „Natürlich weiß ich nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, wären sie zusammengeblieben, aber ich habe das Gefühl, als sei die Scheidung für mich nur halb so schlimm gewesen.“ Nina war fünf Jahre alt, als ihr Vater auszog. „Wir wohnten damals im Haus meiner Großeltern. Auch mein Onkel lebte noch dort. Und irgendwie war es deshalb nicht so schlimm, dass Papa plötzlich weg war und wir ihn danach eher sporadisch – alle zwei bis vier Wochen – mal sahen.“ Hat das engmaschige familiäre Umfeld den Schmerz der Trennung abgefedert?

Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt

„Es kann sehr hilfreich sein, wenn dem Kind bei einer Trennung weitere zuverlässige und belastbare Erwachsene zur Verfügung stehen“, sagt Gisela Schleske, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Freiburg. Da die Eltern selbst von der Scheidung schmerzhaft betroffen sind, können sie ihren Kindern oft nicht ausreichend Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken, sagt auch Dieter Katterle. „Paten, Großeltern oder Freunde können die Eltern, die oft ihren gesamten Alltag neu organisieren müssen, ungemein entlasten – allerdings nur, wenn sie gegenüber beiden Elternteilen loyal sind und nicht wie in Tamaras Fall gegen einen von beiden hetzen.“ Wenn dies geschehe, sollten Freunde oder Verwandte dem betreffenden Elternteil vielmehr couragiert entgegentreten und offen sagen, dass man so nicht mit Kindern umgehen darf. „Wichtig ist außerdem, dass die weitere Bezugsperson Freude am Kind hat und ihm das vermitteln kann“, ergänzt Gisela Schleske. „In so einer schwierigen Zeit ist es wichtig, dass Kinder in einer unbelasteten Beziehung eine unbeschwerte Zeit erleben.“

Daher könne es durchaus sein, dass Großeltern und Onkel in Ninas Fall die Scheidung der Eltern zum Teil aufgefangen haben. „Dass sie die Scheidung heute noch eher kalt lässt, deutet allerdings daraufhin, dass der soziale Verlust des Vaters als Bezugsperson verdrängt und bis heute nicht aufgearbeitet wurde“, vermutet Dieter Katterle. „Das kann dazu führen, dass Nina irgendwann Probleme in der Paarbeziehung oder auch in der Beziehung zu ihrem Kind bekommt.“

Die Geschichte wiederholt sich

In Deutschland sei fast die Hälfte der psychisch unauffälligen Erwachsenen unfähig, eine sichere Bindung einzugehen. Zudem mangele es den meisten Erwachsenen an Kommunikationskompetenzen zur Konfliktlösung. Diese Mischung koche in den meisten Beziehungen irgendwann hoch, und dann komme es vielfach zu Entfremdung, chronischen Spannungen und am Ende zur Trennung. Viele Scheidungskinder wiederholten ihre Geschichte und trennen sich ebenfalls von ihren Partnern.

„Dass Nina als Kind keine Chance hatte, die Sache zu verarbeiten, könnte daran liegen, dass – wie es leider sehr häufig passiert – die Eltern das Kind nicht altersgerecht in die familiäre Entwicklung miteinbezogen und ihm die Trennung nicht ausreichend erklärt haben“, vermutet der Nürnberger Psychologe. „Der Vorwurf gegen die Eltern, den ich von erwachsenen Scheidungskindern am häufigsten höre, ist: ‚Obwohl es zu Hause ständig Krach gab, wurden wir nie gefragt, was wir in dem Moment gebraucht hätten. Es hat uns keiner etwas gesagt geschweige denn erklärt, bis es irgendwann hieß: ‚Ab morgen wohnt Papa woanders.‘“

Bereits vor der Trennung Rat suchen

„Für uns stand unser Sohn immer an erster Stelle“, berichtet Marina Sonne (Name geändert). Ihr Sohn war bei der Scheidung von ihrem Exmann knapp drei Jahre alt und damit zu klein, um die Situation allein mit Worten erklärt zu bekommen. „Wir haben uns beide bereits vor der Trennung Rat und Hilfe bei einer Psychologin gesucht. Diese hat uns erklärt, unser Sohn müsse das sichere Gefühl haben, dass wir immer Mama und Papa für ihn bleiben – egal, was passiert.“ Außerdem hätten sie beide gelernt, dass sie ihre Probleme miteinander klären müssen und nicht auf dem Rücken des Kindes austragen dürfen.

„Im Fall Sonne haben beide Elternteile trotz großer Schwierigkeiten enorm viel geleistet, damit es dem Kind gutgeht“, erklärt Gisela Schleske. Die Mutter ist nach der Trennung mit dem Sohn von Freiburg nach Hannover gezogen, trotz der großen Entfernung wurde der Kontakt zum Vater immer aufrechterhalten. „Der Vater war von Anfang an sehr engagiert, ist alle zwei Wochen fürs Wochenende nach Hannover gefahren und hat außerdem immer geschrieben und angerufen“, so Schleske. Und auch die Mutter habe den Kontakt gefördert, indem sie ihre Wohnung an den Wochenenden, an denen der Vater kam, zur Verfügung stellte, so dass der Sohn in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte.

Regelmäßiger Kontakt ist wichtig

Der regelmäßige und häufige Kontakt ist bei so kleinen Kindern enorm wichtig, da sie noch kein dem Erwachsenem vergleichbares Zeitempfinden, keine „Objektkonstanz“ hätten, erklärt Dieter Katterle. „Wenn der Vater oder die Mutter über mehrere Wochen nicht präsent ist, verliert das Kind die Bindung zu ihm oder ihr und muss sie immer wieder aufs Neue knüpfen. Wenn das häufig passiert, ist das irgendwann emotional zu anstrengend fürs Kind.“

Die Freiburger Psychologin Gisela Schleske hält es darüber hinaus für unerlässlich, dass sich Eltern in Trennungssituationen Hilfe suchen. „Herr und Frau Sonne lassen sich von Fachleuten nicht nur bei ihren Problemen miteinander helfen, sondern sie suchen auch immer wieder Rat, wenn es um ihren Sohn geht. Das zeugt von Bescheidenheit und dem Bewusstsein, dass auch Mütter und Väter manchmal nicht weiterwissen, das aber nicht schlimm ist, sondern dass sie sich Unterstützung suchen dürfen.“

Im Lauf der Zeit haben Marina Sonne und ihr Exmann unter anderem gelernt, dass sie durch ihr Kind ein Leben lang verbunden bleiben und daher miteinander reden und den anderen mit Respekt behandeln müssen. „Wir entscheiden alles, was unser Kind betrifft, nach wie vor gemeinsam“, erzählt Marina Sonne. „Natürlich gibt es dabei auch Meinungsverschiedenheiten, aber die regeln wir miteinander. Unser Sohn muss davon nichts wissen.“

Pflichtmediation könnte eine Lösung sein

„Eltern haben nicht nur ein Sorgerecht, sondern vor allen Dingen eine Sorgepflicht“, ist Dieter Katterle überzeugt. „Daher haben sie die Pflicht, sich bei drohenden Scheidungsproblemen zu informieren und beraten zu lassen.“ Beratung zu finden, sei nicht schwer: In jeder Stadt gibt es kostenlose Paar- und Familienberatungsstellen, organisiert von der Stadt oder den Kirchen. Ein Blick ins Internet oder Telefonbuch genüge, um mit einem ersten Ansprechpartner in Kontakt zu treten. „Und wer sich nicht beraten lassen will, muss meiner Meinung nach dazu in die Pflicht genommen werden“, so der Psychologe. „Eine Pflichtmediation sollte am Anfang jedes gerichtlichen Umgangsverfahrens stehen, damit zwischen den Eltern wenigstens ein Minimalkonsens für den künftigen Eltern-Kind-Kontakt ausgehandelt werden kann. Vorher sollte keiner der Beteiligten seine gewünschten Rechtspositionen erreichen.“ Bewährte Modelle dafür gebe es in Deutschland bereits. Allerdings nützten die nur, wenn gleichzeitig der Wissensstand und die psychologische Weiterbildung bei den scheidungsbegleitenden Professionen wie Familienrichtern, Jugendamtsmitarbeitern, Anwälten, aber auch in der Kita und der Schule massiv verbessert würden. „Davon sind wir heute allerdings noch sehr weit entfernt.“

„Das Wohl unserer Kinder ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, meint auch Gisela Schleske. Jedoch würden Kinder in Deutschland, anders als in anderen Ländern, meist als Privatangelegenheit behandelt. „Weder Lehrer und Ärzte noch Freunde und Verwandte trauen sich, Eltern Ratschläge zu geben und Hilfe anzubieten. Das ist eine fatale Entwicklung.“ Sie zitiert ein afrikanisches Sprichwort, nach dem die Erziehung eines Kindes eines ganzen Dorfes bedarf. „Vater und Mutter allein können nicht in allen Fällen wissen, was für sie und ihr Kind das Beste ist – schon gar nicht in einer emotionalen Ausnahmesituation wie einer Scheidung.“

Das Netzwerk Familie kann vieles auffangen

Das Wichtigste und zugleich Einfachste sei es, Eltern über die Beratungs- und Therapieangebote, die es bereits gibt, zu informieren, rät Dieter Katterle. „Warum liegen im öffentlichen Raum, bei Behörden, Gemeindebüros, im Bioladen und bei den zuständigen ärztlichen Fachgruppen wie Psychiatern, Gynäkologen, Kinder- und Hausärzten nicht mehr Broschüren über Elternkurse, Angebote zur Konfliktlösung und Kommunikationskurse für Paare und Eltern aus? Flyer mit der einladenden Aufschrift ‚Sie wollen sich scheiden lassen – hier bekommen Sie Rat und Unterstützung‘ sollten ganz selbstverständlich verfügbar sein.“ Denn Aufklärung über das für Kinder richtige Elternverhalten sei ebenso wichtig wie Aufklärung über die Folgen des Rauchens, ungeschützten Sex und andere Gefahren für Leib und Seele.

Für Gisela Schleske ist vor allem das unmittelbare Netzwerk der Familie von Bedeutung. „Wenn das Kind weiß, dass es außer Mama und Papa noch weitere liebevolle und kompetente Menschen in seinem Umfeld gibt, holt es sich die Hilfe, die es braucht, oft ganz allein.“

Die Experten sind überzeugt: nur in einer Gesellschaft, die sich als Gemeinschaft begreift und in der man die Angelegenheiten seiner Verwandten, Freunde und Nachbarn im positiven Sinne als seine eigenen betrachtet, können Kinder gedeihen und auch schwierige Lebensphasen meistern – damit das Trauma nicht zum Normalfall wird.

Immer mehr getrennte Eltern

Die Scheidung oder Trennung von Eltern ist heute weit verbreitet. Mit wachsender Normalität und sich ändernden Moralvorstellungen entfiel im Lauf der Jahrzehnte die Stigmatisierung als Scheidungs- oder Trennungskind. Außerdem wird eine Trennung von der Mehrheit der Paare heute – wenigstens theoretisch – auch als Chance begriffen.

Im Jahr 2011 wurden in Deutschland rund 187 600 Ehen geschieden. Trennungen unverheirateter Paare können statistisch nicht erfasst werden; Schätzungen besagen jedoch, dass ihre Zahl vergleichbar ist. 75 Prozent der Scheidungen geschahen vor dem zwanzigsten Ehejahr. 148 200 minderjährige Kinder waren von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Experten raten Eltern, diese schwierige Phase im Leben ihres Kindes nicht zu bagatellisieren.