Wenn ein Mann zu seiner Frau „meine Liebe“ sagt, und sie zu ihm „mein Lieber“, dann ist das etwas anderes, weil wirkliche Zuneigung im Spiel sein kann. Mit dem anklingenden Ton besitzergreifender Dominanz bei „mein Lieber“ oder „meine Liebe“ bleiben die Geschlechter jedoch unter sich. Der Ausdruck „Mein lieber Mann!“, wenn er an niemand gerichtet ist, sondern etwas Gewichtiges, Ungehöriges oder Drohendes bezeichnet, könnte leicht von dem Beginn furchterregender Gardinenpredigten stammen, von zornigen Ehefrauen an eingeschüchterte Männer gerichtet, eine Formel, die sich dann selbstständig gemacht hat.

 

Frauen sagen in manchen Situationen gerne „junger Mann“, wofür wirkliche Jugend nicht einmal die Bedingung ist, und fast immer dann, wenn andere Frauen zugegen sind. Die Schmeichelei durch Untertreibung des Lebensalters dient dabei als Zuckermantel um den bitteren Kern der zugeschobenen adoleszenten Unreife, wodurch der Gemeinte erst richtig alt aussieht, wenn er verdattert und geduckt von dannen schleicht. Es wäre allerdings auch hier geraten, keine Wirkung erkennen zu lassen, aber „danke, Fräulein“ hat sich gelegentlich schon bewährt. „Danke, meine Dame!“ wäre allerdings noch besser, weil diese Anrede auf einen Anspruch verweist, der nicht eingelöst ist.

Vergröbernde Übernahme französischer Lebensart

Das Wort „Dame“ ist aus Frankreich übernommen, um das Wort „Frau“ in seiner verblassten Bedeutung „Herrin“ zu ersetzen und schließlich für alle zu gelten , sofern sie keine Männer sind. Die Übernahme französischer Lebensart und romanischer Kultur überhaupt ging bei unszuland öfter mit einer gewissen, oft auch liebenswerten Vergröberung einher. „Mein lieber Scholli!“ sagt man in gleichem Sinn wie „Mein lieber Mann!“ – „ganz schön heavy!“ –, und doch scheint hinter dem Scholli noch das französische Wort „joli“ auf, was das Hübsche und Anmutige bezeichnet. „Joli“, sprich „Scholí“ mit stimmhaftem sch und Betonung hinten, war der Name eines Pudels, dessen Akzent sich nach vorne verschoben hatte und dem bei Abweichung vom erwarteten Wohlverhalten, das Herrchen nach vorn gebeugt und mit gestrecktem Zeigefinger, die Schranken aufgezeigt wurden.

So wurde denn auch die Anrede „mein Lieber“ vor Jahrhunderten aus Frankreich übernommen und hat sich bei uns in ihrer Anmutung entsprechend gewandelt. „Mon chèr“ oder „ma chère“ ist in Frankreich sehr privat, bezeichnet verwandtschaftlich-intime Nähe und würde niemals in öffentlichem oder halböffentlichem Zusammenhang einer versteckten Rangordnung Ausdruck geben. Die Angehörigen des europäischen Hochadels, diplomatisch verfeindet oder befreundet wie auch immer, waren sich in ihren Anredeformen liebend zugetan, schon durch verwandtschaftliche Verflechtung der Herrschaftshäuser, und so konnte die Standes-zugehörigkeit durchaus ein paradoxes Gegengewicht zu politischen Zerwürfnissen bilden. „Mon chèr Guillaume, j’ai peur qu’on aie la guerre cette année!”, das sagte Zar Nikolaus zu Beginn des Jahres 1914 zu seinem Kaiserkollegen Wilhelm. „Mein lieber Wilhelm, ich glaube, dieses Jahr gibt’s Krieg!“ Darin ist nichts von Herablassung, umso mehr nationenübergreifende Brüderlichkeit unter Gleichgestellten, unbeschadet bevorstehender grausamer Waffengänge.

Und wie wehrt man sich gegen „mein Lieber“? Gar nicht. Die Souveränität der alten Dame aus Pommern, die sich selbst in abgängiger Situation die Anrede leise verbittet, ist ohnedies kaum einzuholen. Die liebende Vereinnahmung einfach zurückzugeben und den Gesprächspartner ebenso anzusprechen, verbietet sich, denn Verletzung zu zeigen ist immer unklug. Was bleibt, ist höfliche Distanz, und der lächelnde Trost, den Kenntnis der Zusammenhänge bescheren kann.

Auch so ein Fall: „Junger Mann!“

Wenn ein Mann zu seiner Frau „meine Liebe“ sagt, und sie zu ihm „mein Lieber“, dann ist das etwas anderes, weil wirkliche Zuneigung im Spiel sein kann. Mit dem anklingenden Ton besitzergreifender Dominanz bei „mein Lieber“ oder „meine Liebe“ bleiben die Geschlechter jedoch unter sich. Der Ausdruck „Mein lieber Mann!“, wenn er an niemand gerichtet ist, sondern etwas Gewichtiges, Ungehöriges oder Drohendes bezeichnet, könnte leicht von dem Beginn furchterregender Gardinenpredigten stammen, von zornigen Ehefrauen an eingeschüchterte Männer gerichtet, eine Formel, die sich dann selbstständig gemacht hat.

Frauen sagen in manchen Situationen gerne „junger Mann“, wofür wirkliche Jugend nicht einmal die Bedingung ist, und fast immer dann, wenn andere Frauen zugegen sind. Die Schmeichelei durch Untertreibung des Lebensalters dient dabei als Zuckermantel um den bitteren Kern der zugeschobenen adoleszenten Unreife, wodurch der Gemeinte erst richtig alt aussieht, wenn er verdattert und geduckt von dannen schleicht. Es wäre allerdings auch hier geraten, keine Wirkung erkennen zu lassen, aber „danke, Fräulein“ hat sich gelegentlich schon bewährt. „Danke, meine Dame!“ wäre allerdings noch besser, weil diese Anrede auf einen Anspruch verweist, der nicht eingelöst ist.

Vergröbernde Übernahme französischer Lebensart

Das Wort „Dame“ ist aus Frankreich übernommen, um das Wort „Frau“ in seiner verblassten Bedeutung „Herrin“ zu ersetzen und schließlich für alle zu gelten , sofern sie keine Männer sind. Die Übernahme französischer Lebensart und romanischer Kultur überhaupt ging bei unszuland öfter mit einer gewissen, oft auch liebenswerten Vergröberung einher. „Mein lieber Scholli!“ sagt man in gleichem Sinn wie „Mein lieber Mann!“ – „ganz schön heavy!“ –, und doch scheint hinter dem Scholli noch das französische Wort „joli“ auf, was das Hübsche und Anmutige bezeichnet. „Joli“, sprich „Scholí“ mit stimmhaftem sch und Betonung hinten, war der Name eines Pudels, dessen Akzent sich nach vorne verschoben hatte und dem bei Abweichung vom erwarteten Wohlverhalten, das Herrchen nach vorn gebeugt und mit gestrecktem Zeigefinger, die Schranken aufgezeigt wurden.

So wurde denn auch die Anrede „mein Lieber“ vor Jahrhunderten aus Frankreich übernommen und hat sich bei uns in ihrer Anmutung entsprechend gewandelt. „Mon chèr“ oder „ma chère“ ist in Frankreich sehr privat, bezeichnet verwandtschaftlich-intime Nähe und würde niemals in öffentlichem oder halböffentlichem Zusammenhang einer versteckten Rangordnung Ausdruck geben. Die Angehörigen des europäischen Hochadels, diplomatisch verfeindet oder befreundet wie auch immer, waren sich in ihren Anredeformen liebend zugetan, schon durch verwandtschaftliche Verflechtung der Herrschaftshäuser, und so konnte die Standes-zugehörigkeit durchaus ein paradoxes Gegengewicht zu politischen Zerwürfnissen bilden. „Mon chèr Guillaume, j’ai peur qu’on aie la guerre cette année!”, das sagte Zar Nikolaus zu Beginn des Jahres 1914 zu seinem Kaiserkollegen Wilhelm. „Mein lieber Wilhelm, ich glaube, dieses Jahr gibt’s Krieg!“ Darin ist nichts von Herablassung, umso mehr nationenübergreifende Brüderlichkeit unter Gleichgestellten, unbeschadet bevorstehender grausamer Waffengänge.

Was tatsächlich dahinter steckt

Die schriftliche Anrede auf Deutsch, höchsten Kreisen vorbehalten, hieß „Euer Liebden“. Hier zeigt sich ein Plural, der, wenn man ihn bei uns heute vorfindet, etwa „Meine Lieben“ als summarische Anrede in einem verwandtschaftlichen Rundbrief, gar keinen zweifelhaften Beigeschmack mehr hat. Derselbe Effekt tritt ein, wenn „mein Lieber“ als Anrede eine Adresse hat, also den Namen dazusetzt, wie der Zar ja auch nicht gesagt hat „Heuer gibt’s Krieg, mein Lieber!“ – ebenso wenig, wie er sich bei der ersten Begegnung vorgestellt hat mit „Ich bin Nikolaus“ und zur Antwort bekam „Ich bin Wilhelm“, wie es unseren neuartigen Gepflogenheiten entspricht. Eine legitime Übernahme des Umgangs der Souveräne untereinander in unsere demokratischen Zeiten wäre es, auch bei nachbarschaftlichem schwerem Streit den Gruß nicht zu verweigern und ein höfliches Gespräch zu führen, wie es etwa der alte Bürgerstolz der Hanseaten bis heute erlaubt.

Die Unterschlagung des Namens bei „mein Lieber“ oder „meine Liebe“ ist der versteckte Giftzahn, der sich durch die Anrede entlädt, will sagen: Du gehörst für mich zu denen, die ich so anreden darf, genauso, wie man sich jemand unterordnet, indem man ihn bei einer Verabredung warten lässt, weil man so zu erkennen gibt, dass man sich das in diesem Fall leisten zu können meint. Sogar auch nur dann, wenn man arglos jemanden fragt, wie es ihm oder ihr gehe, kann man ins Fettnäpfchen treten, wenn man nicht näher vertraut ist. „Normalerweise frage ich das meine Kunden“, sagte eine Ladeninhaberin auf eine entsprechende freundliche Erkundigung und gab weiter keine Antwort.

Und dabei hätten wir es selbst in der Hand

Eine überholte frühere Gesellschaftsordnung wirkt umso länger nach, je schneller sie einem neuen System weichen musste, so steht es bei Alexis de Tocqueville. Die Ständegesellschaft vor der großen Französischen Revolution ging bei Anredeformen, Grußgebräuchen und Kleiderordnung mit einer Sicherheit einher, was zu tun und zu lassen war, die sich danach aufgelöst hat.

Bei uns, vor bald einem Jahrhundert, musste es mit der Demokratie viel zu schnell gehen, als dass sich nicht die Schatten einer vordemokratischen alten Rangordnung in die neue Zeit durchgepaust hätten, und einer dieser Schatten ist die Anrede „Mein Lieber“. Leben wir auch in keiner Ständegesellschaft mehr, ist doch das Bedürfnis, sich anderen durch Verhalten im Umgang überzuordnen, nicht aus der Welt, zu Gunsten einer informellen Ungleichheit, die durch kein Gesetz und keine Regel gedeckt ist und sich im Atmosphärischen niederschlägt.

Aber das alles heißt ja nicht, dass wir nicht die Freiheit hätten, diese Schatten im Licht einer Eigenschaft aufzulösen, die früher nur Fürsten zustand und heute für ganze Staaten gilt: der Souveränität als persönlicher Eigenschaft freier Bürger zum freundlichen Umgang unter ihresgleichen.

Der Autor Christof Stählin

Das Interesse an Fragen des menschlichen Umgangs bewegt Christof Stählin seit Längerem. „Die Kunst der Herablassung“ hat er sowohl eines seiner Kabarettprogramme als auch eines seiner Bücher (1995) betitelt, nähere Untersuchungen widmete er sowohl der Figur des Dandys als auch den Barbaren.

Wenn der Schriftsteller, Musiker und Kabarettist nicht mit seinen Musik- und Kleinkunstprogrammen unterwegs ist, lebt er in Hechingen. Am morgigen Sonntag ist er in der ersten Ausgabe des SWR-2-Musikbrettls zu Gast beim Festival auf Schloss Kapfenburg in Lauchheim (Beginn 19 Uhr).