Essay über Umgangsformen „Mein Lieber“

„Mein Lieber“ oder „junger Mann“: Wie wir einander anreden, zeigt, wie wir zueinander stehen, auch nach dem Ende ständischer Gesellschaftsordnungen. Ein Versuch über höfliche Herablassung von Christof Stählin.
Stuttgart - Eine alte Dame in München, aus pommerschem Adel gebürtig und verarmt, lebte allein und hilfsbedürftig in einer Münchner Dachwohnung. Eine Nachbarin aus dem Viertel kümmerte sich um sie, und als die ihr eines Tages die Besorgungen zum Essen brachte, übergab sie die Sachen mit den freundlichen Worten: „Hier, meine Liebe!“
Beim nächsten Besuch wurde sie von der Umsorgten mit einer leisen Bitte empfangen: „Bitte, sagen Sie nicht mehr ,meine Liebe‘ zu mir!“ Die hilfsbereite Nachbarin hält sich seither daran und hat die kleine Begebenheit berichtet, die auf einen sensiblen Zeitgenossen so wirkt, als würde der tiefgefrorene Wattebausch an der Pinzette eines Zahnarztes seinen kranken Zahn auf Vitalität prüfen. Der Nerv darunter wäre die demokratische Gleichheit, die Karies aber wäre die versteckte Dominanz unter dem Vorwand liebender Zuwendung.
Es darf nicht jeder jeden lieben, sofern es um die Anrede geht, viele aber müssen sich lieben lassen, und geliebt wird immer von oben nach unten. „Wir sollten uns bald einmal sprechen, mein Lieber“, sagt der Firmenchef beiläufig im Aufzug zum Abteilungsleiter, wenn die Zahlen nicht stimmen und Kündigung in der Luft liegt. „Meine Liebe“ nennt die Frau des Chefs seine junge Sekretärin, „Tag, mein Lieber“, sagt der jugendliche Fernsehredakteur zum gereiften Schriftsteller, der auf ein Honorar hofft. Es ist ein Machtbeweis, der sich tarnt mit dem schützenswerten Gut zugeneigter Mitmenschlichkeit und sich sogar vor denen versteckt, die sich seiner bedienen, denn es fehlt ihnen das Bewusstsein der Unrichtigkeit – unter billigender Inkaufnahme des Sockels, auf den sie sich durch „mein Lieber“ liften. Das Verdienst der alten Dame aus Pommern ist der Mut, sich diese Art Liebe nicht gefallen zu lassen.
Eigentlich ein Picken auf den Kopf, wie auf dem Hühnerhof
Woher aber nimmt die Gebrechliche den Mut? Sie ist in Verhältnissen aufgewachsen, da man Dienstboten in gewissen Situation so angeredet hat, ihre Haltung zeugt von Standesbewusstsein. So verzichtbar dieses heute ist, so sehr bedarf die beanspruchte Superiorität des besitzergreifenden Begrüßers eines liebenden Anscheins. Das Picken auf den Kopf, das man vom Hühnerhof kennt, verwandelt sich in ein sprachliches Streicheln über den Haarschopf, und zwar um der Gleichheit willen, in die sich die Ungleichheit von hinten wieder eingeschlichen hat. Hier liegt auch der Trost für den geduckten Angeredeten: wer immer ihn „mein Lieber“ nennt, muss sich diese Anrede selber von Höhergestellten gefallen lassen und gibt sie einfach weiter, oder er musste sie sich lange Zeit anhören und darf jetzt selber lieben. Bevorzugte Opfer sind Angehörige freier Berufe, die schwer einer Rangordnung zuzuordnen sind und daher von allen verbal geliebt werden dürfen, denen das Selbstbewusstsein fehlt, es zu unterlassen.
Und wie wehrt man sich gegen „mein Lieber“? Gar nicht. Die Souveränität der alten Dame aus Pommern, die sich selbst in abgängiger Situation die Anrede leise verbittet, ist ohnedies kaum einzuholen. Die liebende Vereinnahmung einfach zurückzugeben und den Gesprächspartner ebenso anzusprechen, verbietet sich, denn Verletzung zu zeigen ist immer unklug. Was bleibt, ist höfliche Distanz, und der lächelnde Trost, den Kenntnis der Zusammenhänge bescheren kann.
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