Wegsehen gehört dazu


Der Bericht von Olanda Guttenberger, die mit sechs Jahren aus Karlsruhe verschleppt wurde, lässt erahnen, wie tief sich die Ereignisse vom Mai 1940 in die Erinnerung eingebrannt haben: "Ich war gerade zwei Monate in der Schule, als wir abgeholt wurden. In der Nacht war's - ich weiß, dass da ein furchtbarer Krach war, und plötzlich waren so uniformierte Polizisten in unserer Wohnung. Meine Mutter hat uns dann aus dem Bett geholt, ein Leintuch auf dem Boden ausgebreitet und gesagt, wir sollten unsere Kleider da reinschmeißen. Ich habe eine Puppe gehabt, von der wollte ich mich nicht trennen. Wir waren vier kleine Kinder. Ich, mit sechs, war die Älteste. Mein Bruder, der war gerade drei Monate alt, als wir fortmussten. Das war eine gedrückte Stimmung, aber irgendwie auch hektisch, mit Geschrei und Krach. Deshalb haben wir Kinder dann auch geweint. Und die Alten haben vielleicht schon was geahnt."

Zur Geschichte der Maideportation gehören auch das Schweigen und das Wegsehen der Nachbarn, Freunde und der Arbeitskollegen. Weder die Verhaftungen noch der Abtransport der Menschen fanden im Verborgenen statt. Wie Zeitzeugen berichten, wurden einige Kinder sogar während des Schulunterrichts abgeholt. Der Kreis der Mitwisser umfasste also nicht nur die beteiligten Polizeibeamten.

In Köln etwa riegelten bewaffnete Polizei- und Wehrmachtseinheiten bei den Verhaftungen ganze Straßenzüge ab. Hilfskräfte inventarisierten den Hausrat der Deportierten, anschließend wurden die Wohnungen verplombt. In Mainz erschienen kurz nach der Deportation Zeitungsannoncen mit freien Zimmern und Wohnungen - und mit den vormaligen Adressen der verschleppten Sinti und Roma.

Meist war es die Fahrt in den Tod


Für die meisten deportierten Männer, Frauen und Kinder war die Fahrt nach Polen eine Fahrt in den Tod. Nach ihrer Ankunft wurden die Sinti- und Roma-Familien in Arbeitslagern eingepfercht. Von Sommer 1940 an erfolgte ihre Einweisung in jüdische Ghettos, wie in Radom, Siedlce oder Warschau. Dort zwang man sie, farbig gekennzeichnete Armbinden mit dem Buchstaben "Z" zu tragen. Selbst Kinder und alte Menschen mussten bis zur völligen Erschöpfung beim Straßenbau, in Steinbrüchen oder in Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten. Hunger und Krankheiten, Seuchen, Kälte und Misshandlungen bestimmten den Alltag. Überlebende berichten, sie hätten Brennnesseln und Gras gegessen, um zu überleben. Christine Winterstein, die siebenjährig aus Mainz verschleppt worden war, erzählt: "Wir haben im Lager Siedlce zwischen den Toten gelegen. Jeden Tag sind die Leiterwagen gekommen, und die Toten wurden abgeholt, nackt, so sind sie hinter den Zaun in die Massengräber gefahren worden. Einfach in die Grube sind sie geworfen worden. Verhungert sind sie, erschlagen worden sind sie. Die SS kam oft mit Pferden angeritten, und von oben haben sie runtergeschlagen mit ihren Knüppeln. Ich habe meine Geschwister verloren im Lager, meine Großeltern, viele Onkel, Neffen, Cousinen sind im Lager geblieben."

Einigen wenigen Deportierten gelang es, zu fliehen und im besetzten Polen im Verborgenen zu leben. Andere versuchten, sich nach Deutschland durchzuschlagen, die meisten von ihnen wurden auf der Flucht verhaftet und in andere Konzentrationslagern gebracht. Vor allem von 1942 an fielen sowohl die nach Polen deportierten deutschen Sinti als auch die einheimischen Roma den Exekutionskommandos der SS, Polizei und Wehrmacht zum Opfer, oder sie wurden in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz-Birkenau verschleppt. Der renommierte Historiker Wolfgang Benz wertet die erste Deportation deutscher Sinti- und Roma-Familien ins besetzte Polen im Mai 1940 zu Recht als "eine Art Generalprobe für den Völkermord". Bis Kriegsende fielen im nationalsozialistisch besetzten Europa 500.000 Sinti und Roma dem Völkermord zum Opfer.

Bis heute ist die Verschleppung der Sinti und Roma vom Mai 1940 und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Holocaust kaum im historischen Bewusstsein der Bundesrepublik präsent. Dabei war sie in vielerlei Hinsicht ein Muster für die späteren Massendeportationen aus dem Deutschen Reich in die Vernichtungslager. Die spezifische Verbindung von bürokratischer Organisation, Rassenwahn und Barbarei, die in Auschwitz perfektioniert werden sollte, ist bereits in Grundzügen erkennbar. 70 Jahre danach sollte die Chance genutzt werden, dieses Ereignis in das kollektive Gedächtnis unseres Landes aufzunehmen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Der Autor: Romani Rose


Ämter:
Romani Rose, Jahrgang 1946, ist seit 28 Jahren Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Er gehört außerdem zum Direktorium der 1988 gegründeten Internationalen Bewegung gegen Diskriminierung und Rassismus. 1991 wurde er Geschäftsführer des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.

Familie:
13 enge Verwandte von Romani Rose wurden von den Nazis in Konzentrationslagern ermordet. Sein Vater Oskar Rose überlebte den Holocaust auf der Flucht, sein Onkel Vinzenz Rose überlebte Auschwitz und medizinische Experimente im KZ Natzweiler.