Unabhängig von den Freiburgern arbeitete der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard seit 1942 an Überlegungen für die Ordnung in einem Nachkriegsdeutschland. Erhard, der riskante Kontakte zum deutschen Widerstand hatte, und der Kultursoziologe und Ökonom Alfred Müller-Armack erkannten, dass der Neuanfang die besondere Nachkriegssituation berücksichtigen müsse. Müller-Armack forderte die „Versöhnung von Arbeit und Kapital“. Er prägte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft (mit großem „s“), den Erhard großartig zu kommunizieren verstand.

 

Diese „Soziale Marktwirtschaft“, eine pragmatische Verbindung des „Ordoliberalismus“ mit dem „soziologischen Liberalismus“, war zweistufig angelegt. Zunächst ging es um die unmittelbare Linderung der Not, den Wiederaufbau und die Eingliederung der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Ihr sollte eine zweite Stufe folgen, sprachlich etwas holprig „Formierte Gesellschaft“ genannt, die der weiteren „Versöhnung von Kapital und Arbeit“, der sozialen Absicherung sowie der Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am volkswirtschaftlichen Vermögen gewidmet ist. Schon die kaum nennenswerte Rezession von 1966 dämpfte dieses Vorhaben. Die Ölkrisen der siebziger Jahre, hohe Lohnforderungen im öffentlichen Dienst, Wirtschaftskrisen, die Wiedervereinigung, der Prozess der Globalisierung und die seit 2007 anhaltende labile Situation im Finanzbereich ließen und lassen kaum Zeit, ordnungspolitisch klar zu handeln.

Verhängnisvolle Rezepte der „Chicagoer Schule“

Angelsächsische Theoretiker interpretieren den Liberalismus freilich in einer Weise, die dem zentralen Anliegen des deutschen Neoliberalismus glatt widerspricht, allen voran die „Chicagoer Schule“ mit ihrem bekanntesten Vertreter Milton Friedman, die auf einen Minimalstaat, Deregulierung und die Effizienz der Märkte, auch die der Finanzmärkte, setzte. Neuerdings forderten einige US-Autoren sogar, schlichte Verbraucherinformationen zu unterlassen! Diese „Neuinterpretation“ vergisst, dass der Gebrauch der Freiheit immer Dritte treffen kann, weshalb „Freiheit ohne Grenzen“ schließlich im chaotisch-brutalen „Recht des Stärkeren“ mündet. Kein ernst zu nehmender deutschen Neoliberaler hätte formuliert, dass „Märkte stets und immer effizient“ seien, und dass ein „Minimalstaat“ genüge.

Interessierte Lobbyisten ließen sich diese Vorlagen nicht entgehen. Es war im Jahr 1999, als der als liberal eingestufte US-Präsident Bill Clinton (Wahlslogan: „It’s the economy, stupid!“) das nach der Großen Depression 1933 erlassene Verbot von Universalbanken aufhob und die halbstaatlichen Hypothekeninstitute Fannie Mae und Freddie Mac zwang, für Hypothekenkredite an nahezu mittellose Bürger geradezustehen. Zugleich überschwemmten undurchschaubare „strukturierte Finanzprodukte“ den Markt. Beliebt waren etwa die sogenannten Spread Ladder Swaps, wohinter sich Wetten auf die unterschiedliche Zinsentwicklung verschiedener Währungen verbergen. Dieses Gebräu musste früher oder später explodieren. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis mit der Subprime-Krise und der Lehman-Brothers-Pleite Verwerfungen ausgelöst wurden, die bis heute anhalten.

Der Wettbewerb soll frei und zugleich regelgebunden sein

Heute wird gern behauptet, dass Smith dem Staat nur eine „Nachtwächterfunktion“ zuweisen wollte, während die bespöttelte „Unsichtbare Hand“ den Rest schon regle. Diese Behauptung ist falsch. Wenn Smith in seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) den Ausdruck „Unsichtbare Hand“ verwendet, bedient er sich damit einer zeitgenössischen Redensart. Sie dient ihm als Metapher für die Koordinationsleistung eines freien, aber regelgebundenen Wettbewerbs, die kein Planer je erreichen könnte. Smith verlangt vom Staat eine ordnungspolitische Wettbewerbspolitik, weil sonst selbst das „harmloseste Treffen von Unternehmern“ zu einer „Verschwörung gegen die Verbraucher“ wird. Und er fordert ein Bankgesetz, das „Brandmauern“ errichtet – modern gewendet: die Trennung von Kreditgeschäften und Investmentbanking.

Die Regierungen seiner Zeit scherten sich wenig um derlei Empfehlungen. Sie blockierten den freien Außenhandel und beschränkten den Wettbewerb. Noch 1897 erlaubte der deutsche Reichsgerichtshof Unternehmerabsprachen, und Deutschland mutierte „zum Land der Kartelle“. Eine wirksame Organisation der Arbeitnehmer wurde unterdrückt und behindert. Die Industrialisierung brachte deshalb zwar einen riesigen Kapitalstock hervor, zeitigte aber gleichzeitig Landflucht, Verstädterung, Kinderarbeit und missachtete die soziale Absicherung.

Der Neoliberalismus hat viele Facetten

Vor dem Hintergrund des linken wie des rechten Totalitarismus entwickelten Denker des 20. Jahrhunderts zwei Richtungen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, um Frieden und Wohlstand in und zwischen den Völkern dauerhaft zu ermöglichen: den Demokratischen Sozialismus und den Neoliberalismus. Die Leitidee der deutschen Sozialdemokratie war der Versuch, Demokratie und Sozialismus in einer dualen Wirtschaftsordnung fruchtbar zu verknüpfen: „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig“, so fasste es 1954 Karl Schiller, später „Superminister“ der sozialliberalen Koalition, zusammen. Bei Lichte besehen haben aber der Staat und seine Ziele Vorrang. Bringt der Wettbewerb nicht die erwünschten Resultate, so ist einzugreifen: beeinflussend, intervenierend oder regulierend.

Der viel gescholtene Neoliberalismus, ein Begriff, mit dem die liberalen Erneuerer selbst nicht besonders glücklich waren, umfasst mehrere Facetten. Die Freiburger Schule des „Ordoliberalismus“ umriss noch während des Dritten Reichs und stets der Gefahr staatlicher Verfolgung ausgesetzt eine tragfähige Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung für die Zeit nach dem Krieg. Ihre Vordenker weisen dem Staat die Pflicht einer strikten Ordnungspolitik zu. Berühmt sind Walter Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien, mit den Kernelementen Preisniveau-Stabilität, einer stabilen Währung, dazu Privateigentum, das strikt mit der Haftung gekoppelt ist, sowie ein regelgebundener Wettbewerb. Umweltschutz und Mindestlöhne waren ihnen keineswegs fremd: Das Rechnungswesen müsse schädliche Effekte erkennbar machen, damit „Raubbau an der Natur“ vermieden werde. Eine solche gleichermaßen freiheitliche und regelgebundene Ordnung mutet dem Staat viel zu – zu viel, meinten manche und warfen Eucken vor, einen viel zu starken Staat zu wollen.

Die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft

Unabhängig von den Freiburgern arbeitete der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard seit 1942 an Überlegungen für die Ordnung in einem Nachkriegsdeutschland. Erhard, der riskante Kontakte zum deutschen Widerstand hatte, und der Kultursoziologe und Ökonom Alfred Müller-Armack erkannten, dass der Neuanfang die besondere Nachkriegssituation berücksichtigen müsse. Müller-Armack forderte die „Versöhnung von Arbeit und Kapital“. Er prägte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft (mit großem „s“), den Erhard großartig zu kommunizieren verstand.

Diese „Soziale Marktwirtschaft“, eine pragmatische Verbindung des „Ordoliberalismus“ mit dem „soziologischen Liberalismus“, war zweistufig angelegt. Zunächst ging es um die unmittelbare Linderung der Not, den Wiederaufbau und die Eingliederung der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Ihr sollte eine zweite Stufe folgen, sprachlich etwas holprig „Formierte Gesellschaft“ genannt, die der weiteren „Versöhnung von Kapital und Arbeit“, der sozialen Absicherung sowie der Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am volkswirtschaftlichen Vermögen gewidmet ist. Schon die kaum nennenswerte Rezession von 1966 dämpfte dieses Vorhaben. Die Ölkrisen der siebziger Jahre, hohe Lohnforderungen im öffentlichen Dienst, Wirtschaftskrisen, die Wiedervereinigung, der Prozess der Globalisierung und die seit 2007 anhaltende labile Situation im Finanzbereich ließen und lassen kaum Zeit, ordnungspolitisch klar zu handeln.

Verhängnisvolle Rezepte der „Chicagoer Schule“

Angelsächsische Theoretiker interpretieren den Liberalismus freilich in einer Weise, die dem zentralen Anliegen des deutschen Neoliberalismus glatt widerspricht, allen voran die „Chicagoer Schule“ mit ihrem bekanntesten Vertreter Milton Friedman, die auf einen Minimalstaat, Deregulierung und die Effizienz der Märkte, auch die der Finanzmärkte, setzte. Neuerdings forderten einige US-Autoren sogar, schlichte Verbraucherinformationen zu unterlassen! Diese „Neuinterpretation“ vergisst, dass der Gebrauch der Freiheit immer Dritte treffen kann, weshalb „Freiheit ohne Grenzen“ schließlich im chaotisch-brutalen „Recht des Stärkeren“ mündet. Kein ernst zu nehmender deutschen Neoliberaler hätte formuliert, dass „Märkte stets und immer effizient“ seien, und dass ein „Minimalstaat“ genüge.

Interessierte Lobbyisten ließen sich diese Vorlagen nicht entgehen. Es war im Jahr 1999, als der als liberal eingestufte US-Präsident Bill Clinton (Wahlslogan: „It’s the economy, stupid!“) das nach der Großen Depression 1933 erlassene Verbot von Universalbanken aufhob und die halbstaatlichen Hypothekeninstitute Fannie Mae und Freddie Mac zwang, für Hypothekenkredite an nahezu mittellose Bürger geradezustehen. Zugleich überschwemmten undurchschaubare „strukturierte Finanzprodukte“ den Markt. Beliebt waren etwa die sogenannten Spread Ladder Swaps, wohinter sich Wetten auf die unterschiedliche Zinsentwicklung verschiedener Währungen verbergen. Dieses Gebräu musste früher oder später explodieren. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis mit der Subprime-Krise und der Lehman-Brothers-Pleite Verwerfungen ausgelöst wurden, die bis heute anhalten.

Falsche Leitbilder vom schlanken Staat

Der Verlockung, Geld mit geschickten „Finanzkonstruktionen“ zu verdienen, widerstand auch Deutschland nicht. 2004 beschloss die rot-grüne Koalition die Zulassung der bis dahin verbotenen Hedgefonds. Und während der Großen Koalition förderte der damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) die Fusion von Dresdner Bank und Commerzbank, um neben der Deutschen Bank einen zweiten „großen Player“ im Weltfinanzgeschäft zu haben. Dabei hatte sich doch die Dresdner Bank schon am Investmentbanking verhoben. Kurz danach räumt Steinbrück ein, man habe vor der Krise nicht gesehen, dass „unregulierte Märkte autoregressive Züge“ aufweisen. Man kann nur raten: Mehr lesen! Bei Smith und den deutschen Neoliberalen stand das schon alles.

Schließlich verabredete die Große Koalition im Jahr 2005, die Finanzaufsicht „schlank zu gestalten“ und den Anlegerschutz am „Leitbild des mündigen Bürgers“ zu orientieren. Zynisch interpretiert: wer sich im Irrgarten der „strukturierten Finanzprodukte“ verheddert, ist selbst schuld. Landesregierungen ermutigten ihre Landesbanken, Ausgliederungen in Dublin zu gründen, um am großen Rad mitzudrehen. Ein klarer Verstoß gegen die in Basel II getroffenen Vereinbarungen zur Eigenkapitalsicherung. Unabhängig vom Parteibuch fielen viele Stadtkämmerer – leider auch in Stuttgart – auf das abstruse „Cross-Border-Leasing“ herein, also den Verkauf und das Zurückmieten öffentlicher Einrichtungen. Und bisher sind die EU-Staaten nicht willens, Kreditausfallversicherungen, sogenannte Credit Default Swaps, zu verbieten, wenn ihnen kein Kredit zugrunde liegt. Im Privatbereich käme dies einer Feuerversicherung auf das Haus des Nachbarn gleich.

Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass deutsche Neoliberale diesem Treiben jemals ihren Segen gegeben hätten. Hier liegt Staatsversagen vor und nichts anderes.

Siegfried Franke – leidenschaftlich liberal

Siegfried F. Franke, ausgebildeter Groß- und Außenhandelskaufmann, fühlt sich seit dem Studium in Freiburg/Br. dem Liberalismus verbunden. Nach seiner Assistentenzeit in Dortmund hatte er Professuren in Hamburg und an der Universität Stuttgart inne. Er leitet den Herder-Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Andrássy Universität in Budapest. Von Franke sind zuletzt die Bücher „Europa am Scheideweg“ (2012), „Vertrauenserosion“ (2011) und „Der doppelt missverstandene Liberalismus“ (2010) erschienen (alle Metropolis Verlag, Marburg).