Westdeutsche sollten aufhören, Dankbarkeit von Ostdeutschen zu fordern und besser deren Lebensleistung würdigen, schreibt StZ-Autorin Katja Bauer in einem Essay zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.
Berlin - Sabine war 19 Jahre alt, als sie nachts aus ihrem Kinderzimmer schlich und die Dreiraumwohnung ihrer Eltern verließ. Es war September 1989. Sabine hatte entschieden, im Westen zu leben. Am Abend gab sie dem Vater einen Kuss, das war unüblich. Mehr Abschied, gar eine Erklärung, ging nicht. Sabine kam im Oktober 1989 im Kreis Ludwigsburg an. Eine 19-jährige Schneiderin aus Karl-Marx-Stadt, die in einer Turnhalle auf einem Feldbett saß, und sagte, es sei nicht angenehm, mit siebzig Menschen in einem Raum zu schlafen. Sie erzählte, dass sie eine helle Wohnung mit Balkon suche, und sagte dann den Satz: „Ich hätte gerne einen Farbfernseher.“
Na, da kochte aber die Volksseele. Wie undankbar!
Sabine kann inzwischen nahezu akzentfrei Spätzle sagen. Sie hat Job, Mann, Kinder und einen Farbfernseher. Alles selbst erarbeitet, insofern hätte sie die Zugangsvoraussetzungen in Baden-Württemberg erfüllt. Nur eine Vergangenheit, die hat sie jetzt nicht mehr. Wenn Freunde Erinnerungen austauschen, schweigt sie. Es frage niemand, sie habe sich abgewöhnt, darüber zu reden. „Wird hier nicht verstanden.“
Die Westperspektive kommt von oben her
Eine Allensbach-Studie hat zum 25. Jahrestag des Mauerfalls festgestellt, wie nah sich die Ost- und die Westdeutschen sind. Es gibt eine Schnittmenge in dem, was die Menschen als privateste Prioritäten sehen: Familie, Partnerschaft, Freunde. Aber eine andere schmerzhafte Grenze teilt das Land – und wird es so lange teilen, bis es der westlichen Mehrheit gelingt, ihren selbstgerechten Blick des „Wir“ auf „Die“ im Osten endlich zu korrigieren.
Diese Perspektive ist auch eine Folge der politischen Entscheidungen: Der – unter diesem Aspekt – fatale Schritt des Beitritts hat direkte Folgen für den Umgang untereinander. Die Westperspektive fußt auf dem selbstgewiss-patriarchalen Gefühl einer Mehrheitsgesellschaft, deren politische Grundannahme erfolgreicher war. Die Minderheitsgesellschaft wurde gnädig aufgenommen. Sie gestand mit dem Schritt des Beitretens ihr Scheitern ein, hatte also das Recht auf Kritik zunächst verwirkt und musste dankbar sein. Von dieser Warte konnte diese Mehrheitsgesellschaft gar nicht anders, als hinunterzuschauen.
Das deutsch-deutsche Päckchenmuster
Platt, aber gut beschreiben die Begriffe des Besser-Wessis und des Jammer-Ossis die Nachwendewirklichkeit. So eine Unterteilung ist angenehm, denn jede Gesellschaft entlastet sich gern damit, eine Gruppe zu identifizieren, auf die sich bestimmte unerwünschte Eigenschaften projizieren lassen. Der Jenaer Geschichts- und Kommunikationswissenschaftler Rainer Gries nennt dies das deutsch-deutsche Päckchenmuster. Zu Zeiten der Teilung hätten die Deutschen in West und Ost über den Versand von Paketen kommuniziert: Jenes Muster der gebenden Westdeutschen und der Ostdeutschen, die dankbar sein sollten, finde sich nach 1989 in den medialen Zuschreibungen. „Ostdeutsche sind demnach stets passive Figuren, denen aus Westdeutschland das Feuer gebracht wird.“ Gries untersuchte die Westmedien und fand heraus, dass sie den Ostdeutschen Passivität, Autoritätshörigkeit und Wehleidigkeit zuschreiben – Fehler, die sie selbst für überwunden halten. Im Westen also wohnen die Tollen. Und im Osten bildete sich das heraus, was der Bürgerrechtler Jens Reich früh als „Trotzidentität“ beschrieb.
Sabine ist der personifizierte Beitritt. Um in der neuen Welt starten zu können, hat sie sich komplette Selbstverleugnung auferlegt. Der Lohn: in ihrem neuen Umfeld gilt sie als eine, die „es“ geschafft hat. Wie zynisch es ist, Biografien wie ihre erst nicht hören zu wollen und dann als Erfolgsgeschichte zu betrachten, fällt gar nicht auf. Auch die staatliche Form der Aufarbeitung der DDR führte dazu, dass Ostdeutsche sich nicht als Menschen wahrgenommen fühlten, die schlicht ihr Leben gelebt haben, sondern als Subjekte, die sich nun zu sortieren hätten in Täter oder Opfer. Bis heute steht der Einzelne, der etwas über sein Leben und die positiven Aspekte einiger staatlicher Einrichtungen in der DDR erzählt, schnell in Verdacht, ein heilloser Diktaturverharmloser zu sein.
Erkannt hatte das schon 2006 eine von der damaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss zusammengerufene Historikerkommission, die empfahl, auch einen Aufarbeitungsschwerpunkt auf den gesellschaftlichen Alltag zu legen. Was für ein Geschrei das auslöste!
Der Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Stasiknast Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, sprach von staatlich geförderter Ostalgie, ein Kollege von ihm sah sich genötigt zu erklären, dass das System der Staatssicherheit für die DDR kennzeichnender gewesen sei als die Kindertagesstätten.
Das ist acht Jahre her, aber immer noch gilt: wer wagt zu behaupten, in der DDR hätte es ein erfülltes Leben gegeben, der begibt sich unter Generalverdacht, den Unrechtsstaat verleugnen zu wollen. Wie aktuell die Siegerperspektive auf mögliche unsichere Kantonisten ist, konnte man an der Debatte zur Koalitionsbildung in Thüringen sehen. Es fehlte nur noch der Wunsch, Bodo Ramelow müsse hundertmal Diktatur an die Tafel schreiben.
Das Desinteresse im Westen ist groß
Es gibt noch einen anderen, sehr individuellen und unverzeihlichen Grund, dass der Osten dem Westen fremd bleibt: Desinteresse. Die Bürgerrechtlerin Tina Krone beschreibt das so: „Als ich das erste Mal am Rhein war, dachte ich: wenn ich hier gelebt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht dafür interessiert, was im Osten los ist. Wenn ein Mensch in einer so schönen Umgebung lebt, dann kann man sich vorstellen, dass er die Ereignisse staunend zur Kenntnis nimmt und sich dann wieder seinem Tagewerk zuwendet.“
Der Unterschied ist: wer im Osten lebte, der konnte sich nicht wieder seinem Tagewerk zuwenden. Alles wurde für alle anders. Um es komplizierter zu machen – für jeden wurde es auch nicht gleich anders. Jeder, egal wie alt und wie gebildet er war, musste auf seine Weise von vorn anfangen. Was gestern richtig war, war heute falsch. Und zwar alles. Keine Widerrede, keine Differenzierung erlaubt. Und dann sollte man sich auch noch für den Soli bedanken. Was gestern da war, war heute weg: Arbeit, Lebensperspektive, Sicherheit. Das galt nicht nur für Erwachsene, sondern auch – und vielleicht besonders – für Kinder.
Wer heute mit 35-Jährigen redet, der hört Geschichten aus einer Welt, in der die Erwachsenen auf einmal verstummten. In der es ratlose Eltern gab und neue Wörter, so wie Arbeitslosigkeit oder gaucken oder Pauschalurlaub oder Hartz IV. In der Kinder mit der Angst einschliefen, morgen aus der Wohnung rauszumüssen. Da wuchs eine Generation auf, die sich ganz alleine durchgekämpft hat, die mehrheitlich kein Role-Model hatte, das für dieses System taugte, und keine familiären Ersparnisse fürs Studium oder die schicke kleine Eigentumswohnung.
Für das, was die Ostdeutschen in den vergangenen 25 Jahren geleistet haben, können sie sich vor allem selbst danken. Für Westdeutsche, die sich seit Generationen in einem ihnen bekannten System bewegen und die gern von ihrer eigenen Verunsicherung reden, weil anders als in den siebziger Jahren nicht alles immer nur aufwärtsgeht, könnte sich der Blick nach „drüben“ so sehr lohnen. Er wäre die vielleicht effektivste Möglichkeit, den Zustand der Asymmetrie in der Perspektive endlich zu korrigieren.