Vom Spott des Mittelalters über Luthers Romkritik bis zum Shitstorm in Netz und Medien: wo Gott und Geld aufeinander treffen, wartet Zündstoff. Warum ist das so? StZ-Autor Paul Kreiner beleuchtet das Lehrbeispiel des Skandals im Bistum Limburg.

Stuttgart - Besonders originell war Martin Luther ja nicht. Dass die Kirche geistliche Güter verkaufte wie weltliche Ware, dass sie himmlische Gnade gegen irdisches Geld verhökerte und den Zugang zum ewigen Leben als kostenpflichtig ausgab – das gehört zu den Grundelementen der Religionskritik (mindestens) seit den Propheten des Alten Testaments. Wo Gott und Geld aufeinandertrafen, häufte sich immer schon Zündstoff, lange bevor Luther am römischen Ablasshandel - „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt“ – sein gesamttheologisches Unbehagen an dieser Kirche in den Urknall der Reformation explodieren ließ. Das Feuer entzündete sich vor fünfhundert Jahren am sündteuren Bau des Petersdoms, für den der Papst seinerzeit das Geld brauchte; das bisher letzte flammte am Bau der Limburger Bischofsresidenz hoch. Und wieder in Deutschland.

 

Hier hatten schon die Dichter des Mittelalters gewütet: „Uns wart verboten bî der toufe, daz man gotes gabe koufe oder verkoufe“, klagt Walther von der Vogelweide: Doch was tun sie in Rom? Wie Judas seinen Herrn gegen dreißig Silberlinge verriet, so lässt der Papst „das deutsche Silber in seinen welschen Schrein“ fließen: „Wie lang will Gott noch schlafen? / Sie hintertreiben, was er wirkt, verfälschen ihm sein Wort, / Sein Schatzverwalter ohne Scham veruntreut seinen Hort / Der Hirt ist Wolf geworden unter Schafen!“

Schon die Carmina Burana kritisierten Rom

Noch ein, zwei Jahrhunderte früher als Walther dichteten die Carmina Burana: „Die Gnade kommt in Hurenkleidern“ auf den „Jahrmarkt der Kurie“: „Käuflich ist heut der Altar / käuflich ist die Hostie gar / Gnade, allen Wertes bar, / kann man feilschend kaufen“. Sogar zum Sprichwort sind diese Zustände kondensiert: „Curia Romana non curat ovem sine lana“ – die römische Kurie kuriert die Schäflein nur, wenn sie die Wolle kriegt. Das wiederum basierte auf einem Bibelzitat. Es stammt aus den Prophetenbüchern Ezechiel, Micha, Sacharja, die – vor gut zweitausendfünfhundert Jahren – fast gleichlautend wetterten: „Wehe den Hirten Israels, die nur sich selbst weiden! Müssen die Hirten nicht die Herde weiden? Ihr trinkt die Milch, nehmt die Wolle für eure Kleidung und schlachtet euch die fetten, gemästeten Tiere; aber die Herde führt ihr nicht auf die Weide.“

Warum fällt die Kirchen- und Religionskritik immer dann so erbittert aus, wenn es um Geld geht? Und führt eine direkte Linie von den Propheten über die mittelalterlichen Dichter und Martin Luther ins Deutschland des Jahres 2013?

Geld steht zunächst für Ausbeutung. Für Unterschiede: ihr da, wir hier. Der Abzug von Gütern weg von denen, die sie erwirtschafteten, hin zu jenen, die ohne eigene Arbeit alles nur verzehrten – das war immer schon das populärste und populistischste Thema jeglicher Herrschaftskritik. Und die jüdisch-christliche Religion, so sehr sie einerseits – bis bin zum Gottesgnadentum – weltliche Herrschaft stützte, verschaffte „denen da unten“ für deren Kritik immer auch ein höheres moralisches Recht. Im gläubigen Volk hat sich durchgängig das Bewusstsein gehalten, dass es Gott eben nicht wohlgefällig war, wenn die einen prassten und die „Rechte der Witwen und Waisen“ mit Füßen getreten wurden. Dem von der Priesterschaft sozial zurechtgepredigten Gott konnte das Volk einen eigenen entgegensetzen; wer Unmut zum Ausdruck brachte – von den Blitze schleudernden Propheten bis zum kleinen Bauern, dem das nahe Kloster den Acker genommen hatte – wusste, dass er sich trotz seiner Kritik nicht der ewigen Verdammnis auslieferte, sondern dass er im Bereich des Glaubens blieb und sogar die göttliche Weltordnung auf seiner Seite hatte. Durchsetzen konnte sich dieses Bewusstsein lange Zeit nur an isolierten Punkten der Geschichte. Was Wunder, dass es eines Tages regelrecht explodierte, als die Gesellschaft sich zu befreien begann.

Wenn das Seelenheil in Gefahr ist

Aber es ging um mehr als äußeren Besitz. Wo Religion im Spiel ist, geht es immer auch um absolute Werte und vor allem ums Seelenheil. Politiker, die schlecht regieren, Ärzte, die eine Zigarette nach der anderen rauchen, kann man sachlich kritisieren, bekämpfen oder als unglaubwürdig zurückweisen. Wenn aber Priester, die das Monopol zur Auslegung des göttlichen Gesetzes für sich beanspruchen, mit ihrem Lebenswandel gegen dieses verstoßen, dann ist die Welt- und Heilsordnung als Ganze in Gefahr. Der Priester, der das Messopfer nach klassischer Lehre „für das Volk und zur Sühne für dessen Sünden darbringt“, reißt im Zweifelsfall dieses Volk mit in die Hölle.

Wer die Angst des Mittelalters vor dem ewigen Feuer kennt, der weiß, wie sehr die Menschen in ihrem Innersten von der quälenden Frage erfüllt waren: Ist „mein“ Priester würdig genug vor Gott, nicht nur für sich allein, sondern auch für mich? Hilft mir ein Sakrament, das ein unwürdiger Kleriker spendet, wirklich zur Erlangung des Heils? Ganze theologische Bibliotheken sind darüber geschrieben worden. Und genau deswegen haut der Minnesänger Oswald von Wolkenstein, wüster Raufbold und Dichter innigster Marienlieder, auch so heftig gegen Rom: Genau dort, „da vnser züflucht solde sein zu waschen ab der sünde pein“, genau dort werde gehurt und bestochen und Recht verdreht. Wer garantiert dann das ewige Leben?

Mit Luther wird die Religionskritik öffentlich

Mit Luther tritt diese Art der Religionskritik in ihre neuzeitliche und bis heute bestimmende Phase ein. Luther nimmt dem Christenmenschen die mittelalterliche Angst. Die Kirche als Heilsanstalt und Heilsmittlerin tritt gegenüber dem individuellen Glauben als entscheidendem Element stark zurück; dafür nimmt die Verantwortung des Einzelmenschen zu. Zum anderen wird Religionskritik mit Luther so öffentlich, so „demokratisch“, wie sie es zuvor nie war. Nicht nur, dass der Reformator selbst mit seinen Schriften auf die alte Kirche eindrischt. Der fulminante Aufstieg des Buch- und Flugblattdrucks sorgt für eine immense Verbreitung – und dafür, dass sich nach dem Schneeballeffekt immer mehr Leute in die Debatte einschalten. Kirchenkritik verlagert sich aus den gelahrten Turm- und frommen Dichterstübchen auf Massen und deren Medien. Und in diesen sind einzelne Stimmen schnell zu öffentlicher Meinung stilisiert, mit all den bekannten Sog-, Verstärkungs-, Lawineneffekten.

Mit Luther und mit der Aufklärung bekommt die Religionskritik deutlich Projektionscharakter. „Die Kirche“ ist nicht mehr ins gesellschaftliche Ganze eingegliedert. Es gibt deren auf einmal zwei, man kann sich mühelos zuerst von der einen, später ohne sozial negative Folgen von allen beiden abheben. Und man kann alles, was einem in Gesellschaft, Familie und im Werdegang des eigenen Lebens nicht gefällt, auf die Kirche abladen; nicht selten wird die Sache gar nationalistisch: Was „römisch“ ist, kann nicht „deutsch“ sein.

„Die Pfaffen“ sind an allem schuld

Wie Luther zuerst den „Babst in Rom“ für alles schuldig sprach, so taten es seine Anhänger bald mit sämtlichen „römischen Pfaffen“. Als dann die Nachfolger die Einschränkung „römisch“ wegnahmen, war die Gedankenstraße gewiesen, die bis zur Gegenwart führt: Dass „die Kirche“, dass „die Religion“ als solche schuld sei an der geistigen, gesellschaftlichen, politischen Unterdrückung der Menschheit. Und dass „Befreiung“ nicht nur die von der Leibeigenschaft bedeutete, sondern auch die Herauslösung aus der Verstrickung tatsächlich religiöser oder religiös zurechtgesponnener Zusammenhänge – kurz: aus einer des Menschen unwürdigen Unmündigkeit, und wenn’s nur ein paar Jahre katholischen Gymnasiums waren.

Heute stellt sich die Frage, ob man die Aufklärung nicht in einem entscheidenden Punkt missverstanden oder verkürzt hat zu einem „platten Rationalismus, der sein Bulldogsgesicht immer breiter auslegt“, wie es schon Arthur Schopenhauer vor exakt zweihundert Jahren befürchtet hat. Und wenn der katholische Theologe Heinrich Fries recht hat mit seinem Satz, ein „areligiöses, profanes Selbstverständnis des Menschen“ sei ein „Spätprodukt der Menschheitsgeschichte“, ließe sich weiterfragen, ob der heute in dieser Hinsicht noch junge Mensch überhaupt schon damit umgehen kann. Die seltsame Mischung aus naivem Erstaunen und vulgär-polternder Ablehnung, aus übersteigertem bis hysterischen Interesse und gleichgültigem Wegschauen, das einem zur Zeit der Limburger Wirren in klassischen Medien und in Internetforen begegnet, spricht nicht immer für die rationale Klarheit, die einer in der Regel gewinnt, wenn er sich mit einem Thema ernsthaft auseinandergesetzt hat.

Früher hatten die Kritiker wenigstens die Bibel gelesen

Die Kirche lässt einen nicht los; aber nicht jeder legt sich verantwortete Rechenschaft darüber ab. Über Voltaires Schwanken hinauszukommen – „Löscht sie aus, die Infame!“ und zugleich: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“ – ist offenbar nicht einfach.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den Protagonisten der Aufklärung und der großen Masse und vielen ihrer Autoren von heute: Ludwig Feuerbach oder Friedrich Engels, Charles Darwin oder Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche oder Ernst Bloch – sie zum Beispiel und die allermeisten ihres Schlags waren Bibelleser. Selbst die prononcierten Atheisten unter ihnen haben sich ihre Positionen erst in Auseinandersetzung mit Bibel und Theologie erarbeitet. Jean-Paul Sartre gar, der sich ausdrücklich „im Humus der Katholizität“ eingewurzelt sah, empfahl eine religiöse Kindererziehung. Erst im Widerstand gegen diese Ausbildung könnten künftige Generationen ihre Freiheit erringen, sagte er. Dass diese ohne Anstrengung einfach gegeben sein könnte, glaubte er gerade nicht.

Heute herrscht der Unfehlbarkeitsanspruch der Medien

Weil an die Stelle von Auseinandersetzung und Entscheidung heute vielfach Gleichgültigkeit getreten ist – der Psychologe Alexander Mitscherlich sprach von einer „Dämmerhaltung der Sattheit“ –, hat auch das elementare, zur kulturellen Allgemeinbildung gehörende Basiswissen über Glaube und Religion stark abgenommen. Das erschwert die vernünftige Einordnung kirchlicher Vorgänge: in der Gesellschaft ebenso wie, weit folgenschwerer, in den Medien. Dabei hat die Befreiung von Religion im Grund nicht geklappt: die Feuerbach’sche Position, der Mensch sei des Menschen Gott, niemand sonst, erweist sich in der tagtäglichen Erfahrung längst als unhaltbar. Das führt in eine geistige Wüste, und deshalb verwundert es nicht, wenn im kollektiven Kindheitsgedächtnis immer wieder der Rest einer gewissermaßen weihnachtlich-sehnsuchtsvollen Vorstellung aufleuchtet, es möge doch, es müsse doch so etwas geben wie einen letzten Halt. Das „Faszinosum“ der Religion scheint also nicht ausgelöscht, nur das Verhalten zu ihm bleibt vielfach unreflektiert.Psychologen wissen, dass daraus entstehende Unsicherheiten des Typs „Wie benehme ich mich richtig?“ vielfach durch allzu demonstrative äußere Sicherheit überspielt werden. Und so ist – das zeigt der Fall Limburg – in Deutschland ein Typ von Katholizität eingezogen, wie er der katholischen Kirche selbst mittlerweile fast zu steil ist. Es ist eine Art Unfehlbarkeitsanspruch der Medien. Es ist deren Versuch, nach der Kirche selbst zur obersten, genauso unhinterfragten Moralinstanz in der Gesellschaft zu werden.

Tendenz zur „Shitstormisierung“

Das „Roma locuta, causa finita“ von einst – also die Feststellung, dass nach einer römischen Entscheidung keine Diskussion mehr stattzufinden hat – ist ersetzt worden durch ein, „Frankfurt / Hamburg / München locuta“. Und an die Stelle eines rechtsstaatlichen Strafprozessrechts tritt in nicht wenigen Medien das alte System der Inquisition. Dessen Grundelemente sind: Ankläger und Richter bilden eine Einheit, und wer einmal angeklagt wird, ist automatisch schuldig. Er kann, egal was er sagt, nicht mehr recht haben; alle seine Einlassungen sind Lügen oder, im besten Fall, Schutzbehauptungen.Es ist ein schräger Treppenwitz der Geschichte: Der Wahrheitsanspruch, den einst die katholische Kirche so diktatorisch oder triumphalistisch geltend machte und den gerade die modernen Massenmedien von ihrem laizistischen, radikal-aufklärerischen Selbstverständnis her ebenso dauerhaft wie hart bekämpften – er ist auf die Medien selbst übergegangen. Befeuert wird dieser Vorgang selbst in Leitmedien wie der FAZ durch die Tendenz zu einer populistischen „Shitstormisierung“ – also zu dem, was gerade Deutschlands gehobene Blätter in Zeiten vor Facebook & Co. immer so elitär-distanziert als „Lufthoheit über den Stammtischen“ zurückgewiesen haben. Genau das scheint heute durch den Masseneffekt der angeblich „sozialen“ Netzwerke einen unwiderstehlichen Sog zu entwickeln. Was Christian Wulff widerfahren ist – das Umschlagen legitimer, auch harter journalistischer Recherchen in eine Hatz gegen die Person – hat im Vorgehen gegen Franz-Peter Tebartz-van Elst seine Fortsetzung gefunden. „Im Grunde“, so hält es die evangelische Theologin Petra Bahr fest, „inszeniert sich die mediale Öffentlichkeit als Jüngstes Gericht“. Dies irae. Mit deutlich weniger Schafen allerdings als Böcken.