Sie sind Katastrophe und Krise, Welle und Flut – Menschen sind sie nicht. Der Ton ist kälter geworden, wenn von Flüchtlingen die Rede ist. Die StZ-Autorin Hilke Lorenz plädiert für mehr Menschlichkeit.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Ein Mann tritt ans Mikrofon. „Warum dauert es so lange mit dem Bau der Flüchtlingsunterkunft in unserem Stadtteil?“, fragt er bei einer Bürgerveranstaltung. Klar, direkt und in der Gewissheit, dass ihn das, was draußen in der Welt geschieht, etwas angeht. Auch das gibt es noch in diesen Zeiten, in denen das Klima kälter und der Ton schneidender wird. Der Mann ist ungeduldig. Er will anpacken und mithelfen. Er will die Menschen aus den Nachrichten endlich kennenlernen. Pragmatik kann herzerwärmend und befreiend sein.

 

Die Politik gibt seit Kurzem einen Ton vor, der nur noch bemüht ist, den verunsicherten Wählern zu signalisieren: Wir zeigen die harte Kante. Zwischentöne der Menschlichkeit bleiben dabei auf der Strecke. Das verändert das gesellschaftliche Klima. „Sie müssen ja nicht kommen. Wir haben sie nicht eingeladen“, raunt sich ein Ehepaar bei der Zeitungslektüre im Zug zu, lässt Abneigung und fehlendes Mitgefühl gegenüber Fremden in hässlicher Deutlichkeit sichtbar werden.

Die Hälfte der Flüchtlinge ist psychisch krank

Zu lesen ist von schweren Erkältungen, an denen die Menschen leiden, die in ihren Zelten in der griechisch-mazedonischen Grenzstadt Idomeni im Matsch ausharren. Daneben Bilder von weinenden Kindern mit Rotznasen. Und dass die Mehrzahl der Geflüchteten – ob in ihrer Heimat oder auf der Flucht – Fürchterliches erlebt hat, wird mittlerweile oft schon nicht einmal mehr erwähnt. Mehr als die Hälfte dieser Menschen sei psychisch krank, habe Gewalt gesehen oder erlebt, schätzt Dietrich Munz, der Präsident der Psychotherapeutenkammer.

Es ist ein Elend, das offenbar eine Abwehrreaktion hervorruft, weil es nicht in die mühsam errungene neue Ordnung passt: ihr da draußen, wir hier drinnen. Täuscht der Eindruck oder atmet gerade ein ganzer Kontinent kollektiv auf? „Die Flüchtlingszahlen gehen zurück“, lautet die Erfolgsmeldung. Statt 2000 pro Tag kommen noch 150 Menschen. Sind das wirklich Erfolgsmeldungen? Hilfsorganisationen protestieren gegen die Lebensbedingungen jenseits der Stacheldrähte.

Mitgefühl, so scheint es, das war einmal. Wer sich noch zu Menschlichkeit hinreißen lässt, ist ein hoffnungsloser Romantiker. Ein Gutmensch. Und über dessen vermeintlichen Realitätsverlust lässt sich prächtig herziehen. Dabei sind es die viel gescholtenen Gutmenschen, die eine Zivilgesellschaft braucht, um zu funktionieren.

Wer sich berühren lässt, mischt ich ein

Wer sich berühren lässt, ist nicht gleichgültig. Das ist in Zeiten von Politikferne und Staatsverdrossenheit eine stark unterschätzte Tugend. Wer sich berühren lässt, steht extrem verunsichernden Ereignissen wie jenen aus der Kölner Silvesternacht nicht ohnmächtig gegenüber. Wer sich berühren lässt, mischt sich ein.

Wie die agile Seniorin aus dem Sportverein, die Anfang Januar zu einem Kennenlerntreffen mit Geflüchteten in die Turnhalle gekommen war. „Eigentlich hatte ich schon ein bisschen Angst“, sagt sie. „Aber ich wollte etwas gegen meine Angst tun.“ Eine ihrer Mitstreiterinnen erzählt: „Meine Mutter hat gesagt: Geh da hin. Ich hatte nach der Flucht auch nichts zu essen.“ Jetzt mischen sie sich beide ein, setzen Gott und die Welt in Bewegung, um Zimmer und Praktika für zwei der syrischen Turnhallenbewohner aufzutreiben. Andere – auch aus ihrem Bekanntenkreis – machen noch immer einen großen Bogen um die fremden Frauen und Männer.

Begegnung ist das Mittel gegen Gleichgültigkeit

Nun sollte Mitleid nicht die einzige Kategorie des Handelns sein. Aber Begegnung berührt und macht aus Menschenmassen eine Versammlung von Einzelindividuen mit ganz unterschiedlichen Leben. Sie ist das Mittel gegen Gleichgültigkeit. Denn seit sich die Europäische Union mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage geeinigt hat, wird von Flüchtlingen wieder mit Vorliebe in abstrakten Größen gesprochen, wie von Waren, die man zurückgeben oder zumindest umtauschen kann. Das Recht auf Individualität scheinen sie verloren zu haben.

Flüchtlinge heute. Foto: AP

Warum lassen sich manche Menschen berühren und andere nicht? Warum verspüren manche Lust, den Neuankömmlingen zu begegnen und andere nicht? Warum gibt es jene, die aufgeben wollen, bevor wir als Gesellschaft überhaupt richtig begonnen haben? Warum wollen wir es, wenn auch in großer gemeinsamer Anstrengung, nicht mehr zusammen schaffen?

Warum besinnen wir uns nicht auf die gelungenen, wenn auch schwierigen Geschichten vom Ankommen, die wir doch auch als kollektive Erinnerung aus unserer jüngsten Geschichte abrufen könnten. Diese Erzählungen könnten uns Zuversicht vermitteln. Warum suchen wir nicht weiter nach diesem Narrativ?

Was ist unsere gemeinsame Geschichte?

Warum erzählen wir nicht mehr Geschichten wie jene, die eine ältere Dame angesichts der aktuellen Migrationsbewegung zum Besten gegeben hat: Als sudetendeutsches Kind kam sie nach dem Krieg mit ihrer Mutter auf die raue Schwäbische Alb. Heute spricht sie deren Dialekt. Damals waren sie und ihre Mutter alles andere als erwünscht bei der Familie, in deren Wohnung man ihnen ein Zimmer zuteilte. „Wir haben uns sehr bemüht, dass wir schnell wieder ausziehen konnten, damit die Familie ihre Wohnung für sich hat“, erinnert sie sich. Aber doch muss ein unsichtbares Band zwischen zwei Familien gewachsen sein, die ohne ihr eigenes Zutun und unter denkbar ungünstigen Bedingungen eine Wegstrecke des Lebens miteinander gehen mussten. Denn beim Abschied bat die schwäbische Vermieterin die fremden Untermieter, sich für das neue Heim etwas aus ihrer Wohnung auszusuchen. „Wir haben ein Bild genommen“, sagt die Dame heute noch voller Rührung, wenn sie sich an das Geschenk erinnert.

Erfahrungen der Heimatlosigkeit und Entwurzelung finden in menschlichen Gesten ein Stück Heilung. Davon sollten wir einander jetzt erzählen. Die Willkommenskultur in den Nachkriegsjahren etwa war alles andere als ausgeprägt, und doch haben wir uns zusammengerauft. Das ist die wohltuend-notwendige Botschaft aus dieser Zeit an die Gegenwart.

Lethargie in den privilegierten Leben

Oder sticht möglicherweise die These, dass die Entschlussfreudigkeit und Risikobereitschaft jener Menschen, die ihre Heimat und ihre Leben verlassen haben, uns verunsichere. Denn viele Einheimische sind insgeheim auch unzufrieden mit ihren Leben, verharren aber aus Bequemlichkeit. Machen uns die Neuankömmlinge womöglich unsere eigene Lethargie in einem derart privilegierten Leben bewusst?

Halten sich viele deshalb lieber abseits? Aus der Ferne kann man Menschen auf Nummern und Posten in der großen europäischen Flüchtlingsbuchhaltung reduzieren. Dann ist es leichter, sich zwischen kaltherzigem Pragmatismus auf der einen und Empathie und Menschlichkeit auf der anderen Seite zu entscheiden. Denn es ist wie immer: Je größer die Zahl der Betroffenen – in diesem Fall der Asylsuchenden – desto weniger fällt der einzelne Mensch ins Gewicht. Je gesichtsloser die Ankommenden bleiben, desto einfacher ist es, ihnen ohne Mitleid zu begegnen und ohne Menschlichkeit über sie zu sprechen. Das Abstrakte ermöglicht es wegzuschauen, sich zu distanzieren. Flüchtlinge sind Welle und Ansturm, Krise und Katastrophe. Menschen sind sie nicht.

Die vermeintlichen Gutmenschen kämpfen gegen die Kälte

Gegen diese gesellschaftlichen Veränderungen kämpfen sogenannte Gutmenschen unermüdlich an. Ihr Handeln ist der Schatz einer funktionierenden Zivilgesellschaft, an das andere immer nur dann appellieren, wenn es um Seniorennachmittage oder die freiwillige Feuerwehr geht.

In der Tat ist im vergangenen Jahr Ungeheuerliches geschehen. Wir treffen plötzlich Menschen, deren Lebenswege die unseren früher nie gekreuzt hätten: den jungen Studenten aus der kurdischen Grenzstadt Kobane oder das Ehepaar, das seine Heimat in Aleppo zurückgelassen hat, um hier bei uns zu überleben. Jeden Tag kann man in sozialen Netzwerken Bilder aus dem zerstörten Aleppo sehen, das allmählich aussieht wie die deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Aleppo, Homs, Berlin und Dresden. Auch der junge Kurde Selman aus Kamishli ist, ebenso wie die Dame von der Schwäbischen Alb, ein Teil der großen Menschheitsgeschichte der Migration. Selman liebt die schwäbische Stadt, in der er jetzt lebt, weil die Gebäude heil, die Menschen freundlich und die Felder weit sind. Der Himmel ist frei von Flugzeugen, keine IS-Kämpfer bedrohen sein Leben oder das seiner Familie.

Zugegeben, es ist mühsam, anzukommen und neu anzufangen, zusammenzufinden. Wenn wir miteinander reden, tun wir das mit Händen, Füßen, Herz und der Übersetzungs-App auf dem Smartphone. Wir sprechen Deutsch und Englisch. Die Geflüchteten erzählen Geschichten von Vätern und Müttern, von Schwestern und Brüdern. Nicht alle ihrer Angehörigen sind in Sicherheit, deshalb haben sie Sehnsucht nach ihnen und sind in Sorge.

Viele Deutsche erleben ein großes geschichtliches Déjà-vu

Ja, es sind viele, die in diesen Monaten bei uns ankommen. Aber es sind Menschen. Und sie sind da. An diesem Punkt setzt unsere gemeinsame Geschichte ein, die nicht in martialisch gebrüllten Parolen wie „Wir sind das Volk“ enden darf.

Flucht und Krieg haben die meisten von uns nicht selbst erlebt. Viele bewegen die Bilder und Ereignisse der vergangenen Monate dennoch sehr. Die Ursache dafür liegt in unseren Familiengeschichten und in der Vergangenheit unseres Landes. Wir tragen diese Erfahrungen in unserer DNA. Viele Deutsche empfinden die Fernsehbilder wie ein großes Déjà-vu. Sie geben Sprachunterricht, kämpfen sich durch den Dschungel des Asylrechts, weil sie sich anrühren lassen wollen und nicht abschotten. Und weil sie es als Verpflichtung sehen, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Sie wollen in den Neuankömmlingen Menschen sehen. Das ist mehr als nur naives Gutmenschentum. Das ist die Voraussetzung für eine gelingende Integration.