Wenn schon Otto Normal glaubt, im Internet eine multimediale One-Man-Show hinlegen zu müssen, welchen Aufwand muss dann der betreiben, der ins öffentliche Bewusstsein dringen will? Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource und neuerdings ein begehrtes Gut.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Stuttgart - Nichts beschäftigt uns so sehr wie unser Selbstbild im Spiegel des anderen Bewusstseins“

 

Georg Franck

Es ist Revolution, fast alle gehen hin, aber kaum einer merkt, dass er mittut: Willkommen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Georg Franck hat die Beachtung durch andere bereits 1998 in seinem wegweisenden gleichnamigen Essay beschrieben. Mit der Digitalisierung haben seine Thesen rasant an Evidenz gewonnen – die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist in sämtliche Lebensbereiche eingedrungen.

Die Ideen des mittlerweile emeritierten Professors für digitale Architektur und Raumplanung aus Wien zeigen eine Logik hinter den disparaten Phänomenen, die unsere Epoche prägen: hinter der Vulgarisierung der Politik, die im US-amerikanischen Wahlkampf ihren vorläufigen Höhepunkt fand, hinter dem Sog, der Milliarden Menschen in die sozialen Netzwerke zieht, und hinter den Terrorattacken von Paris, Brüssel, Berlin oder London. Francks Thesen waren bereits 1998 bestechend – doch das Internet hat eine sozioökonomische Dynamik losgetreten und die beschriebenen gesellschaftliche Prozesse beschleunigt, verstärkt, sogar pervertiert.

Francks Dreh- und Angelpunkt ist die Aufmerksamkeit – die beschränkte Kapazität des Menschen, Dinge bewusst aufzunehmen. Sie erstreckt sich in zwei Richtungen: Aufmerksamkeit, die man schenkt, und die, die man sich wünscht. Der Wunsch, von anderen beachtet zu werden, so Franck, ist dem Menschen wesenhaft. Daraus speist sich der Selbstwert: Stehe ich vor anderen gut da, stehe ich vor mir gut da. Gegenprobe: „Wir erleben es als großes Drama, wenn wir die Zuwendung nicht bekommen, auf die wir uns einbilden, nicht verzichten zu können“, schreibt Franck.

Ein Zuviel gibt es nicht

Die ersehnte Aufmerksamkeit liegt aber nicht herum und wartet nur darauf, aufgesammelt zu werden, schon gar nicht im Internet. Inmitten des endlosen Angebots an Information und Zerstreuung im Netz ist die Aufmerksamkeit der Flaschenhals, durch den es eine Information erst einmal schaffen muss, um ins Bewusstsein vorzudringen. Um den Flaschenhals zu passieren, kreieren Firmen und Interessensgruppen immer aufdringlichere Formen der Darbietung. Aufmerksamkeit ist genau wie Geld ein rares Gut, so Francks Pointe. Die Währungen, in der sie gemessen wird, heißen nicht Euro, Dollar, Renminbi – sondern Followers, Friends, Likes, Visits oder Quote. Die funktionale Vergleichbarkeit zwischen Geld und Aufmerksamkeit zeigt sich auch in der Gier: Ein Zuviel gibt es nie.

Die lukrativsten Jagdgründe, Aufmerksamkeit zu erheischen, sind die sozialen Medien. Hier kann der moderne Mensch rund um die Uhr seinen Selbstwert anreichern, indem er Likes und Kommentare zu seinen Posts sammelt. Es hat sich eine narzisstisch geprägte Kultur entwickelt, in der Nutzer erheblichen Aufwand betreiben, um sich digital von ihrer Schokoladenseite zu präsentieren. Ohne den menschlichen Drang nach Beachtung würden die Geschäftsmodelle von Facebook, Twitter und Co. gar nicht funktionieren. Im vergangenen Jahr avancierte Facebook zum sechstgrößten Unternehmen der Welt und vermeldete 1,59 Milliarden Nutzer. Die Währung Aufmerksamkeit vermählt sich bei Massenmedien wie diesem mit echten Dollars: Beachtung ist hier Kapitalfaktor, weil sie Werbeeinnahmen generiert.

Im selben Zuge lässt sich auf der Nutzerseite eine fortschreitende Professionalisierung beobachten. Vorbei sind die Zeiten, in denen Leute vertrauensselig ihre privaten Schnappschüsse vor der Welt ausbreiteten. Viele betreiben ihren Facebook-Auftritt als Selbstmarketing. „Es gibt kaum noch Amateure. Jeder wird zu einem Label und zu seiner eigenen Werbeagentur, ist permanent auf Sendung und konkurriert geradezu professionell um dieses knappe Gut Aufmerksamkeit“, so Georg Franck jüngst in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin „Brand eins“. Die sozialen Medien haben die Spielregeln der Aufmerksamkeitsökonomie noch verschärft. „Wer nicht mitspielt, gilt dann entweder als Snob, der glaubt, es nicht nötig zu haben, oder er versteht ganz einfach nicht, was da gespielt wird und kann deshalb nicht mithalten. In Demut zu warten, bis man jemandem auffällt, ist von nun an naiv.“

Großmaul-Fortissimo

Das gilt nicht bloß für das digitale Dasein, sondern auch im Alltagsleben, besonders bei der Arbeit. Klappern gehörte zwar schon immer zum Handwerk, aber heute herrscht das permanente Großmaul-Fortissimo: Der Mathematikprofessor und Blogger Gunter Dueck hat seiner Beobachtung, dass in den Betrieben bloß noch die Schreihälse Karriere machen, ein Buch gewidmet. Erfolg hätten nur Mitarbeiter, so Dueck, „die auch oben die Aufmerksamkeit haben, die also oben bekannt sind – neudeutsch heißt das visible. Daher muss jetzt jeder ständig seine eigenen Erfolge beweisen und hinausposaunen, dass er besser ist als die anderen“.

Weder im Berufsleben noch andernorts lassen sich analoge und digitale Welt noch trennen. Selbst wer in der Wüste, fernab aller Sendemasten, urlaubshalber Ruhe sucht vorm digitalen Grundrauschen, stellt sich quasi ex negativo in Abhängigkeit zu diesem. Smartphones, Tablets oder ähnliche Produkte, die man ständig bei sich hat, lassen virtuelle und reale Welt miteinander verschmelzen. Und gemeint sind nicht bloß Wanderkarten, Metrotickets oder Kochrezepte – auch nicht das Internet der Dinge mit seinen Maschinen. Es geht um die gesamte soziale Prägung des Menschen, um Normen, Vorbilder, Kontrollmechanismen. Das Internet wird zum Outernet.

Jedes Mittel ist recht

Wenn schon Otto Normal glaubt, eine multimediale One-Man-Show hinlegen und für sich Werbung machen zu müssen, kann man sich ausmalen, welchen Aufwand einer betreiben muss, der ins öffentliche Bewusstsein dringen will – sei es nun ein Künstler, Youtube-Star oder Politiker. „Aufmerksamkeit will unterhalten werden, gern auch mit Skandalen und Tabubrüchen. Wer ihr das bieten kann, gewinnt sie leicht, und es ist fast egal, womit man sie erlangt”, meint Georg Franck. Im US-amerikanischen Wahlkampf konnte die Welt das komplette Arsenal besichtigen. Lüge, Verleumdung, Beschimpfung, Sexismus oder Witze über Behinderte – jedes Mittel war recht, das Reichweite versprach.

Auch europäische Rechtspopulisten sind vertraut mit den Spielregeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Sie wollen nicht gemocht, sondern gesendet werden. Wie Geert Wilders, Marine Le Pen und Björn Höcke die Klaviatur nutzen, hat der Kabarettist Jan Böhmermann in seinem Podcast „Diese einfachen AFD-Tricks machen dich bekannt und beliebt” unterhaltsam veranschaulicht. Der Koblenzer Kongress der Rechtspopulisten im Januar habe nur deshalb medial Aufmerksamkeit erlangt, weil die Veranstalter die Presse zum Auftakt brüskierten und eine Journalistin des „Spiegel“ ausluden. Kurz zuvor hatte Björn Höcke in Dresden damit Furore gemacht, dass er das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Mahnmal der Schande“ bezeichnete. Zur Strafe, so Böhmermann, „bekam er ein dreiseitiges Interview im Spiegel“. Der Niederländer Wilders wiederum machte von sich reden, weil er ein gefälschtes Foto eines linken Politikers ins Netz gestellt hatte. Die Populisten verstünden es, sich „die Gier der Medien“ nach Reichweite zunutze machen.

Düstere Prognosen in gewaltvollen Zeiten

Und dann sind da die anderen, die Unerhörten, denen keine Aufmerksamkeit zuteil wird. Wer nicht die erwünschte Beachtung erhält, beginnt, über jene herzuziehen, die ihm Aufmerksamkeit verweigern. Dieses Kompensationsmanöver nennt Franck die „Ökonomie des Ressentiments“. Es suche nach Zustimmung und verschaffe sie sich in den Echokammern der sozialen Medien, wo Gleichgesinnte gemeinsam stänkern. Wo das Ressentiment aggressiv wird, sich politisch organisiert und brutalisiert, beginnt das Terrain der Terroristen. Sie erpressen mit Gewalt jene Aufmerksamkeit, die ihnen zuvor versagt wurde. So betrachtet, ist ein terroristischer Anschlag immer auch ein Akt der Kommunikation, eine Art „Marketingmaßnahme für eine menschenverachtende Ideologie“, sagt Franck. „Ich fürchte, man kann diese schrecklichen Vorgänge nicht verstehen, wenn man die Ökonomie der Aufmerksamkeit außer Acht lässt.“ Die einzige Weise, ihnen zu begegnen, sei es, sie medial klein zu halten anstatt sie zu vermarkten.

Wichtiger als streitbare Lösungsvorschläge sind aber grundsätzliche Beobachtungen, nach welchen Gesichtspunkten sich unsere Gesellschaft organisiert. Die Aufmerksamkeitsökonomie liefert Werkzeuge, die helfen, Entwicklungen zu dechiffrieren, da sie wiederkehrende Muster aufzeigen. Das eröffnet eine distanzierte Betrachtung, vor allem aber Ausblicke auf wahrscheinliche Entwicklungen. Und nach der Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie können die Prognosen in Bezug auf die wachsende Gefahr durch Terroranschläge nicht anders ausfallen als stockduster.