Die Restaurants sind zu, das größte, für bedürftige Menschen, ebenfalls: Mit einer warmen Mahlzeit zum Mitnehmen startete in Stuttgart die Vesperkirche. Und sie erlebt auch unter Corona-Bedingungen starke Nachfrage.

Stuttgart - Not macht erfinderisch, das gilt auch für die vom Evangelischen Kirchenkreis Stuttgart organisierte Vesperkirche, für die sich die Leonhardskirche normalerweise in einen großen Speisesaal verwandelt. Bei der 27. Auflage wird das aber dieses Jahr durch die Corona-Pandemie verhindert. Um die Not Bedürftiger dennoch lindern zu können, wurde deshalb nun relativ kurzfristig an der östlich vom Chor abgehenden Magdalenenkapelle eine Essensausgabe eingerichtet, wo die Mahlzeiten to go abgegeben werden. „Wir sind froh, dass wir überhaupt präsent sein können! Es kann uns nicht kaltlassen, dass Menschen von Armut bedroht sind oder in Armut leben“, erklärte Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann.

 

Barmherzigkeit als „Zeichen in die Gesellschaft hinein“

Nicht nehmen ließ man sich allerdings die Tradition, auch die Vesperkirche 2021 mit einem Gottesdienst zu eröffnen, verbunden mit einer Premiere: Dank des Engagements der Neuen Arbeit wurde diese Eröffnung übers Netz ausgesendet. Dabei stellte die Oberkirchenrätin Annette Noller das Thema Barmherzigkeit in den Mittelpunkt ihrer Predigt. Barmherzigkeit müsse „das Zentrum einer radikalen christlichen Ethik“ sein. So sei die Vesperkirche auch „ein Zeichen in die Gesellschaft hinein, sich als Menschenfamilie zu verstehen und miteinander zu teilen“. Sie erinnerte daran, „wie schnell das Leben eine unheilvolle Wendung nehmen kann“. Auch deshalb sollten wir „barmherzig sein in der Art und Weise, wie wir im privaten Umfeld, aber auch in der Gesellschaft das Miteinander gestalten“. Angesichts der „unbarmherzigen Dynamik, die Corona entfacht hat“, sagte Noller, sei „verantwortungsvolles Handeln gefragt“. Und das heiße auch, „Irrtümer zu verzeihen, versöhnlich zu sein, vom Reichtum abzugeben und die Güter des Lebens zu teilen“.

Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann unterstrich, dass „die Härten, die wir derzeit wegen der Pandemie ertragen müssen, bedürftige Menschen besonders treffen“. Trotz aller sonstiger Herausforderungen sei „die Stadtgesellschaft gehalten, Angebote zu schaffen, damit sich keiner alleingelassen fühlt“. So sei die Vesperkirche „auch ein Signal, dass wir für euch da sind, dass wir euch nicht vergessen haben“.

Der Kontakt zu den Gästen fehlt

Als die symbolische Schlüsselübergabe erfolgte und auf dem Altar die Vesperkirchen-Kerze entzündet war, liefen im Kirchenraum die letzten Vorbereitungen zur Essensausgabe. Ingrid Wolfer aus Echterdingen etwa sortierte Mandarinen und steckte eine Tafel Schokolade in jede Tüte. Seit 2011 hilft sie ehrenamtlich mit, weiß deshalb, was „diesmal fehlt“: „Viele Gäste kennt man mit der Zeit. Sie kommen auch, weil sie ein bisschen Kontakt haben wollen. Das geht jetzt leider nicht. Es ist trotzdem wichtig, dass die Vesperkirche in der Form angeboten wird.“

Ein Rentner aus Zuffenhausen steht ganz vorne am Ausgabeschalter der Magdalenenkapelle. „Stammkunde“ sei er, seit vielen Jahren. Was auf dem Speiseplan stehe, das sei egal: „Hauptsache, was Warmes!“ Knöpfle mit gewürfeltem Schweinebraten plus Gemüsegulasch bietet der Sonntag, und die Schlange der Wartenden reicht deutlich über die 25 Positionen hinaus, die hinterem Chor bis zum Nordportal mit Abstand markiert sind. Vereinzelt entsteht Unruhe, wenn Abstand nicht respektiert wird. Als zum Mittag die Zeichenglocke läutet, die an die Kriegszerstörung mahnt, sagt Martin Rittberger, von der ersten Stunde an bei der Vesperkirche: „Vielleicht kann uns die Glocke daran erinnern, dass man mit Vernunft, Demut und ein wenig Gottvertrauen auch durch schwierige Zeiten kommen kann.“ Am Nachtwächter-Brunnen gegenüber sind die beiden Bänke besetzt. Das Trio hat gute Laune: „Mir schmeckt’s!“, versichert Margarete. Attila, ebenfalls knapp über vierzig, wartet noch auf seinen Kumpel, für den er den Schnee von der Bank räumt: „Das wird unser neuer Stammplatz, wir kommen jeden Tag!“