Unser Fotograf Horst Rudel hat Fotos aus dem Jahr 1976 ausgegraben, die markante Plätze und Straßen im Kreis Esslingen zeigen. Seine Tochter Ines Rudel dokumentiert 40 Jahre später die Gegenwart. Heute: Der Platz vor der Stiftsscheuer in Kirchheim

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Ein Hund verhechelt die Hitze. Ein VW-Bus klappert über das Pflaster: „Ganz schön viel Verkehr, dafür dass mer net parka darf“, bruddelt eine Frau, weil sich alle Viertelstunde ein Auto hierher verirrt. Der Platz vor der Kirchheimer Stiftsscheuer döst in der Morgensonne, die Bierbänke sind noch leer, sie füllen sich erst gegen Mittag mit Gästen. „Platz der kleinen Freiheit“ steht an der Gasthausbrauerei, die den Platz heute dominiert. Ein gut gewählter Name, der an die sündige Meile der Hamburger Reeperbahn denken lässt, schließlich trägt die Gastronomie in der Nachbarschaft den klangvollen, aber irreführenden Namen „Freudenhaus“. Die Gasthausbrauerei hat vor etwa einem Jahrzehnt den Betrieb aufgenommen und den Platz heller und gemütlicher gemacht. In den 1970er-Jahren hatte eher das Tor in den Garten des Vogthauses den Blick auf sich gezogen, in dem sich heute die Familienbildungsstätte befindet.

 

Im Jahr 1976 war an Außengastronomie nicht zu denken. Das Bier wurde auf Standardstühlen vor Standardtischen inmitten einer Standardeinrichtung verzehrt, die von einer Standardbrauerei geliefert wurde. Weder die Brauereien, noch die Standarteinrichtung haben die Jahrzehnte überlebt. Soviel zum Standard. Damals musste man lange fahren, bis man überhaupt eine Kneipe fand, vor der man draußen sitzen konnte. Die Jeunesse Doree des mittleren Neckarraumes strömte ins Vier Peh nach Esslingen, ins Onkel Otto oder in den Biergarten am Killesberg in Stuttgart und jede Heimfahrt war ein Tanz auf Messers Schneide des noch erlaubten oder schon verbotenen Alkoholkonsums.

Jetzt können die Kirchheimer vor der Haustür sitzen, gemütlich ein Bierchen trinken, und sich mit den Nachbarn über die Verkehrsmassen unterhalten, die durch ihre Gassen brausen.

Über dem Schild „Platz der kleinen Freiheit“ haben die Bräuknechte noch ein weiteres Schild angebracht. „Bier ist der lebende Beweis, dass Gott uns liebt“, kann man sinngemäß an der Fassade der Gasthausbrauerei lesen. Die Morgensonne und der stille Platz sind es natürlich genauso.