Judith Bayha, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, lebt seit August in der Stadt. Sie berichtet über ihre Erfahrungen bei der Wohnungssuche, ihre Vorstellungen von Barrierefreiheit und mögliche Erleichterungen für den Alltag mit Behinderung.

Esslingen - Für Judith Bayha steht fest: Das Café „Brot und Café“ in der sanierten alten Feuerwache ist ihr Esslinger Lieblingslokal. Dort wird ihr nicht nur ein guter Capuccino serviert, sondern eine für sie als Rollstuhlfahrerin größtmögliche Selbstständigkeit. Ebenerdig gehe es über die Schwelle, es gebe eine behindertengerechte Toilette und im Supermarkt nebenan werde sie von aufmerksamen und hilfsbereiten Verkäufern bedient.

 

Letztere gibt es natürlich auch in vielen anderen Esslinger Geschäften, aber mit der Erreichbarkeit für Rollstuhlfahrer sei es nicht immer gut bestellt, berichtet die 46-Jährige, die seit Ende August in der ehemaligen Reichsstadt lebt und von Februar an als Sonderpädagogin in der Rohräckerschule auf dem Esslinger Zollberg arbeitet. Die Topografie, das Kopfsteinpflaster und viele Stufen bereiteten ihr große Schwierigkeiten, ohne Hilfe in der Stadt überhaupt voranzukommen. Abschüssige Straßen ließen sich zwar nicht ändern, sagt Judith Bayha schmunzelnd. Aber ihrer Meinung nach ließen sich mehr Wege und Eingänge barrierefrei gestalten.

Das französische Caen als gutes Beispiel

Als gutes Beispiel nennt sie die französische Stadt Caen, in der sie zuletzt fünf Jahre mit ihrem Mann gelebt hat. Auch die besitze wie Esslingen einen historischen Stadtkern. Aber in der Mitte der mit Kopfsteinpflaster belegten Straßen befänden sich Streifen mit ebenen Platten, auf denen Rollstuhlfahrer gut voran kämen, ohne anzuecken. „Hier in Esslingen komme ich nicht alleine zum Marktplatz oder zur Bücherei.“ Zudem erleichterten in Caen an vielen Eingängen zu Geschäften und Lokalen Rampen oder kleine Aufzüge die Erreichbarkeit zu Rad.

Was sie in der Stadt in der Normandie besonders beeindruckt habe, sei ein von der Kommune initiierter Mobilitätsdienst für Behinderte, den diese mit dem Europaausweis nutzen könnten. Zehn kleine Sprinter transportierten die Menschen mit Handicap von A nach B – zu einem Preis, der mit 1,25 Euro dem eines Bustickets entspreche. „Das ist natürlich nicht rentabel für die Stadt“, gibt sie zu. Aber der Service biete den Menschen „die Gelegenheit, sich selbstständig im öffentlichen Raum zu bewegen“. Mit dem Bus sei das so nicht möglich. Das Ein- und Aussteigen sei beschwerlich und nicht immer seien die Rollstuhlplätze frei. Und die Nutzung des Taxis zu rund zehn Euro pro Fahrt „kostet auf Dauer viel Geld“.

Zu wenig behindertengerechte große Wohnungen

Vor fünf Jahren habe sie sich noch mit Unterarmstützen fortbewegen können und sie sei damit weitaus mobiler gewesen, berichtet Judith Bayha, die seit ihrer Geburt unter Tetraspastik leidet, einer Lähmung von Armen und Beinen. Doch nach zwei Stürzen mit schweren Schulterverletzungen habe sich ihr Zustand so verschlechtert, dass sie nun auf den Rollstuhl angewiesen sei. Umso schwerer sei es gewesen, von Frankreich aus eine für dieses Fortbewegungsmittel geeignete Unterkunft in Esslingen zu finden. Denn es gäbe viel zu wenig behindertengerechte Wohnungen, die vor allem auch für mehrere Personen oder Familien geeignet seien. Wohnungen in Hanglage kämen ohnehin nicht in Frage: „Sonst geht’s raus aus der Haustür und im Schuss bergab.“ Sie ist froh, nun mit ihrem Mann im Klarissenhof in der Richard-Hirschmann-Straße wohnen zu können, wo die Baugenossenschaft Esslingen mehrere barrierefreie Wohnungen eingerichtet hat.

Vor ihrem Auslandsaufenthalt hatte die 46-Jährige schon Kunst, Deutsch und Mathematik in der Esslinger Rohräckerschule unterrichtet. Damals wohnte sie in Reutlingen. In den drei Monaten, die sie jetzt in Esslingen lebt, habe sie seitens der Esslinger Bürger eine große Offenheit und tatkräftige Hilfsbereitschaft erfahren, „ich finde als Rollstuhlfahrerin überall freundliche Unterstützung“.

Forderungen an den Denkmalschutz

Dennoch fallen ihr einige Verbesserungen ein, die helfen würden, den Alltag und vor allem die Teilhabe am Leben innerhalb der Stadt zu erleichtern. Dazu gehörten an Straßenzügen durchgängig abgesenkte Randsteine, sonst fahre man ein Stück und komme plötzlich nicht mehr weiter, weil die Bordsteinkante „ein unüberwindliches Hindernis“ darstellt. Mehr berampte oder ebenerdige Eingänge zu Läden, öffentliche Einrichtungen, Krankengymnastik- und Arztpraxen wären wünschenswert, ebenso längere Grünphasen an Straßenübergängen und mehr behindertengerechte Toiletten in erreichbaren Abständen. „Wenn man zur Toilette muss, kann man nicht erst 20 Minuten fahren, um diese zu erreichen.“

Angesichts der Tatsache, dass Esslingen über viele Einrichtungen für Menschen mit Handicap verfüge – beispielsweise die Rohräckerschule, die Diakonie Stetten sowie verschiedene Altenheime –, sollten die Verbesserungen mehr in den Blick gerückt werden. Hier sei auch mehr Flexibilität seitens des Denkmalschutzes gefragt, fordert Judith Bayha. Denn die Liebe zur Historie sollte ihrer Ansicht nach nicht einer funktionalen, alltagstauglichen Begehbarkeit übergeordnet sein. Schließlich lebe eine Stadt für und durch ihre Bewohner.

Wichtig ist eine behindertengerechte Infrastruktur

Barcelona, so erzählt sie mit leuchtenden Augen, komme ihrer Idealvorstellung von Barrierefreiheit schon sehr nahe. Dort habe sie sich als Rollstuhlfahrerin „wie im siebten Himmel gefühlt“: an den Bussen fahren die Rampen automatisch aus, es gebe an allen Geschäften Eingänge ohne Hindernisse und jede Menge behindertengerechte Toiletten. Für gehandicapte Menschen sehr gute Voraussetzungen, sich in der Öffentlichkeit zeigen und Kontakt zu Nichtbehinderten knüpfen zu können. Das liege aber zum Teil auch an der unterschiedlichen Mentalität, vermutet sie: „In Deutschland zieht man sich eher zurück, wenn man nicht mehr so funktioniert wie etwa vor einem Unfall.“

Judith Bayha ist zuversichtlich, dass im Rahmen des Projekts „Auf dem Weg zu einem inklusiven Esslingen“ vieles angestoßen wird. Sie hoffe aber, dass auch danach weiter an dem Thema gearbeitet wird. In Sachen Inklusion „kenne ich den absolut richtigen Weg nicht“, gibt sie zu. Zu unterschiedlich seien die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Das wichtigste aber sei, eine behindertengerechte Infrastruktur zu schaffen. Denn nur so könnten die Leute raus und ihr Leben selbstständig gestalten, nur so könne man sich begegnen und so die Unsicherheiten im Umgang miteinander abbauen.