Der Autor Jonas Lüscher hat der Esslinger Lesart ein besonderes Literaturerlebnis beschert. Sein neuer Roman stellt existenzielle Fragen.

Mit entwaffnender Ehrlichkeit gesteht Lesart-Kuratorin Dominique Caina, sie habe beim ersten Lektüreversuch „gar nichts verstanden und den Roman unters Sofa gepfeffert“. Dass das neue Buch von Jonas Lüscher nur hymnische Kritiken erhalten hatte, kratzte freilich an Cainas Ehre als Literaturwissenschaftlerin, sie wagte einen zweiten Versuch – und entdeckte einen literarischen Schatz, den sie dem Publikum des Esslinger Literaturfestivals Lesart ans Herz legt: „Bleiben Sie dran. Es lohnt sich. Ich war lange nicht mehr so tief drin in einem Buch.“ Nach seiner Lesung bei den Literaturtagen mussten die Zuhörer nicht weiter überzeugt werden, dass Jonas Lüscher mit „Verzauberte Vorbestimmung“ (Hanser Verlag, 26 Euro) ein ebenso gewaltiges wie brillantes Werk gelungen ist.

 

Wenn Jonas Lüscher seine langen, komplexen, rhythmischen Sätze liest, entsteht ein sinnlicher Sog aus Hören, Sehen, Riechen und Fühlen: Scharfer Brandgeruch, ein Duft nach Aftershave, rhythmisches Hufgeklapper, ein glutroter Himmel, die Wärme eines frisch gerupften Gänsekiels, erst Licht, dann Dunkelheit, ein kurzer Moment der Ruhe, dann ein leises Lied.

Das Esslinger Publikum ist mittendrin

Schon vor Jahren wurde der Schweizer Autor ausgezeichnet. Foto: dpa

Das ist nicht wie Kino, das ist wie mittendrin dabei sein. Wobei es die „Verzauberte Vorbestimmung“ dem Leser und Zuhörer wahrlich nicht leicht macht: Der Roman bewegt sich – gespickt mit Anspielungen und Zitaten – durch Zeiten und Räume, wechselt Schauplätze, Erzählebenen, Milieus und Themen. Manches taucht nur leicht variiert als fragmentierte Wirklichkeit mehrfach auf. Es gibt Szenen wie im Fieber, aus einem Zwischenreich zwischen Schlaf und Erwachen, Halluzinationen, Alpträume und Nahtod-Erfahrungen.

Mühelos reist Jonas Lüschers Erzähler in der Zeit: „Beim Nachdenken, wie sich die Beziehung zwischen Mensch, Maschine und Technik über die Jahrhunderte entwickelt hat, habe ich immer wieder ähnliche Motive und Strukturen entdeckt. Deshalb habe ich den linearen Zeitverlauf aufgehoben“, erklärt der Autor. Dieses Oszillierende, das Hin und Her zwischen Davor und Danach, liest sich wie ein Abbild der hochkomplexen Welt, in der wir leben. Nein, Lüschers Geschichten passen nicht immer nahtlos ineinander, und klare Antworten liefert der Roman schon gar nicht. Aber genau diese Irritationen schärfen die Wahrnehmung – und spornen zum Nachdenken an.

Sein Leben hing am seidenen Faden

Eigentlich ist Jonas Lüscher 2019 angetreten, um einen technik-skeptischen Roman zu schreiben, verrät er bei der Lesart. Eine kritische Reflexion darüber, wie abhängig der Mensch von Maschinen und Technik ist und wie stark technischer Fortschritt und Zerstörung miteinander verwoben sind. Zu Beginn der Corona-Pandemie erkrankte er jedoch aufs Schwerste an Covid 19. Jonas Lüscher wurde aus der Welt gerissen und lag im künstlichen Koma. Maschinen außerhalb seines Körpers übernahmen lebenswichtige Funktionen. „Damals war ich so viel Cyborg, wie man das heute nur sein kann. Ich habe mein Leben der Medizintechnik zu verdanken, wie im Übrigen vermutlich die meisten hier im Saal, denn früher wäre man an einem entzündeten Blinddarm oder einem vereiterten Zahn gestorben.“ Diese Erfahrung habe nicht nur sein Leben, seinen Roman, sondern auch seine Arbeit als Schriftsteller verändert: „Vorher war das ein distanziertes, ironisches Schreiben, ich habe mir mit dem Schreiben die Welt vom Leib gehalten. Jetzt musste ich mich selbst in ein Buch hineinschreiben.“

Lüscher erforscht die Verbindung zwischen Mensch und Maschine über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg und folgt dabei nicht klassischen Erzählmustern. Er selbst hat seinen Roman einmal als „rhizomatisches Gewebe“ bezeichnet, ein unterirdisch wild wucherndes Spross- und Wurzelsystem. Er begibt sich auf Reisen, erzählt vom ersten deutschen Giftgasangriff, vom französischen Briefträger, der aus gesammelten Steinen für sich einen „Palais Idéal“ errichtet hat, nimmt die Mondlandung ins Visier und lässt Mischwesen aus Mensch und Maschine im Kairo der nahen Zukunft einander begegnen.

Ein Plädoyer für das Leben

Jonas Lüscher setzt ein kleines Licht der Hoffnung. Foto: Gaby Weiß

Eindrücklich liest er in Esslingen von böhmischen Webern, die 1811 mit Hämmern zwei Webstühle zerschlugen, weil sie ahnten, dass die Industrialisierung die Produktionsbedingungen verschlechtern und Arbeitsplätze kosten wird. „Die Weiterentwicklung der KI bringt diese Maschinenstürmer-Bewegung in die Gegenwart“, schlug Jonas Lüscher einen Bogen zu aktuellen kritischen Fragen. Technischer Fortschritt will den Menschen souverän machen, bringt ihn gleichzeitig aber in Abhängigkeit. Trotzdem scheint am Ende des Romans ein kleines Licht auf: „KI zwingt uns, uns zu fragen, was uns als Menschen ausmacht. Die Fähigkeit zu lachen. Weil wir es in der Gemeinschaft mit anderen tun. Die Fähigkeit zu lieben. Und das Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit“, plädiert Jonas Lüscher für das Leben.

So geht’s weiter bei der Lesart

Zelter
Am Mittwoch, 5. November, um 19.30 Uhr ist Joachim Zelter mit „Hoch oben“ im Kronensaal der Kreissparkasse zu Gast. Von der Kritik als „intelligentes Narrenspiel“ gelobt, inszeniert der Roman ein Politikspektakel um einen omnipräsenten süddeutschen Oberbürgermeister, das durchaus Parallelen zu realen Orten und Personen habe.

Streeruwitz
„Auflösungen“ heißt das neue Buch der österreichischen Literatin Marlene Streeruwitz, aus dem sie am Donnerstag, 6. November, um 19.30 Uhr im Bürgersaal des Alten Rathauses liest. Sie schildert darin das Innenleben einer Wiener Lyrikerin, die nach persönlichen Umbrüchen in New York Poetik unterrichtet und im Jahr vor Trumps Wiederwahl erkennt, dass sich Sicherheiten und moralische Werte auflösen.

Engler
Der Autor und Psychologe Leon Engler stellt am Freitag, 7. November, um 19.30 Uhr im Kutschersaal der Stadtbücherei seinen Debütroman „Botanik des Wahnsinns“ vor. Darin schaut er auf die Biografie seiner Familie und entdeckt Suizidversuche, Psychiatrieaufenthalte, Alkoholismus und Depression. Wie soll da für ihn ein „normales“ Leben gelingen? Was überhaupt ist ein „normales“ Leben? Lesart-Tickets gibt es über www.reservix.de