Der Shanty-Chor der Marinekameradschaft Tsingtau hält das Andenken an die ehemalige deutsche Kolonie in Ostchina hoch – auch wenn er streng genommen nichts mit ihr zu tun hat.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Langsam trudelt die Marinekameradschaft Tsingtau ein. Der Tsingtau-Keller ist ein mittelalterliches Sandsteingewölbe im mittelalterlichen Stadtkern von Esslingen, einer Stadt, die nichts mit der Seefahrt zu tun hat, außer dass der Hafenmarkt in der Nähe ist. Aber da ankerten keine Schiffe, wie vielfach geglaubt wird, sondern da hatten einst die Töpfer ihre Stände, die Kochhafen feilboten, wie im Schwäbischen die Kochtöpfe heißen. Unter den Steuerrädern, den Flaggen, den mächtige Schiffsmodellen, den Wimpeln und dem Glaskasten mit den Seemannsknoten lassen sich die alten Männer nieder.

 

Es gibt in Esslingen keinen Nachkommen mehr von den ehemaligen Kolonialtruppen der einzigen Kolonie Deutschlands in Ostchina, die damals Tsingtau hieß und heute Qing-Dao heißt. Und in der Marinekameradschaft gibt es unter den 60 passiven Mitgliedern und den 30 Sängern des Shanty-Chors nur noch fünf Leute, die jemals zu See gefahren sind. Rätselhaft, was den sympathischen Haufen zusammenhält, der sich an diesem Dienstag zur Chorprobe trifft.

„Homa ne Platte“, schallt es quer durch den Raum – die Kommandostruktur der Marinekameradschaft funktioniert noch vorbildlich. „Was, ne Flasche?“ Viele der betagten Sänger hören nicht mehr so gut. „Nein, eine CD von unserem Shanty-Chor.“

Seemänner aus Württemberg

Deutschland hatte einst das drittgrößte Kolonialreich der Welt, geschützt von verwegenen Kolonialtruppen. Unvergessen ist immer noch Paul von Lettow-Vorbeck, der von 1914 an in Deutsch-Ostafrika einen Guerillakrieg gegen die Engländer führte und erst Ende 1918 aufgab, nachdem er mitten im Buschland zufällig erfahren hatte, dass der Krieg in Europa schon zu Ende war.

Die Soldaten von Tsingtau waren aus demselben Holz geschnitzt. Mit 6000 Mann verteidigten sie die deutsche Kolonie gegen 58 000 britische und verbündete japanische Soldaten drei Monate lang vom 2. September bis zum 7. November 1914, bevor sie den Gang in die Kriegsgefangenschaft antraten. Manche mussten dort bis ins Jahr 1920 bleiben. Aber warum zum einbeinigen Klabautermann haben sich die Nachkommen der Kolonialtruppen ausgerechnet in Esslingen getroffen und nicht wenigstens in der Landeshauptstadt? „Stuttgart, wo liegt’n das?“ scherzen die alten Männer „Das is da, wo se nächstens die Autos verbieten.“ „Ha, dann kannst du nur noch mit dem Hubschrauber reinfliegen.“

Die historisch korrekte Antwort ist wohl, dass etliche Seeleute und einige Kolonialtruppen aus Süddeutschland stammten und sich nach dem Ende der japanischen Kriegsgefangenschaft wieder in ihrer Heimat Württemberg niederließen, einige davon in Esslingen. Bekannt ist beispielsweise Heinrich Reiser, der bis 1909 als Artillerist in Tsingtau Dienst tat und aus Esslingen stammte. Seit den fünfziger Jahren war die Kameradschaft eher ein allgemeiner Verbund von Seeleuten, heute treffen sich vor allem Ruheständler mit Liebe zur See und Musik.

Alte Seemannslieder und Stuttgarter Bier

„Die besten Kapitäne kamen immer aus dem Süden“, doziert Dieter Benze, der Vorsitzende der Marinekameradschaft. Benze, 77, ist zehn Jahre zur See gefahren, weil er nach einer Lehre bei Opel in Rüsselsheim die Nase voll hatte von der Fabrikarbeit. Seine Mutter verbot ihm den Weg auf die Hamburger Marineschule, aber er wartete einfach, bis er volljährig war. Er arbeitete sich vom Matrosen bis zum Kapitän zur See hoch – und hing dann sein Patent an den Kajüten-Nagel. In den Betrieben wurden die Sozialleistungen immer mehr verbessert, aber nie in der Seefahrt. „Ich wusste, wenn die Seefahrt da nicht nachzog, würde kein deutscher junger Mann mehr ein Schiff betreten.“ Also trat er in die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ein und ließ sich auf der ÖTV-Akademie in Stuttgart zu einem Kämpfer für ein besseres Arbeitsleben auf See umschulen. Und heute? Er winkt mit einer großen, die ganze christliche Seefahrt umfassenden Bewegung ab. „Is alles den Bach runter, gibt ja nur noch Filipinos an Bord.“

Sein Kamerad Karl-Heinz Zonewicz, 87, hat seine erste Seefahrt mit 13 Jahre unternommen. Mit dem ehemaligen Schnellbootbegleitschiff Tanga floh er mit seinen Eltern aus Danzig vor den Russen. Während der Fahrt bekam das Schiff einen Bombentreffer ins Heck und konnte nicht mehr steuern. Daraufhin mobilisierte die Crew die Hebekräne an Bord, hängte sie an das Ruder und manövrierte so in den nächsten sicheren Hafen.

Später in Hamburg wollte Zonewicz Matrose werden, nur fuhr 1948 kein einziges deutsches Schiff mehr zu See. Dann doch lieber Förster, aber auch das wurde nichts. So wie Zonewicz kamen viele Männer von der Waterkant in den Süden, wo es Arbeit gab. Sie ließen sich nieder, gründeten Familien und stießen – meist im Rentenalter – zur Marinekameradschaft, wo sie im Shanty-Chor alte Seemannslieder schmettern und Bierchen trinken.

Besuch in China

Der Keller füllt sich. Mit Matrosen? „Noi“, sagen sie, sie seien Esslinger aus dem Stadtteil Mettingen. Warum auch nicht, schließlich gibt es in Mettingen eine Straße namens „Alte Schiffahrt“. Schon singen sie „. . . bei Windstärke vier . . .“ und schunkeln dazu. Beim Vers „bei Windstärke sieben“ legen sie sich quer auf die Bank, denn bei solch einem Sturm haut es selbst den stärksten Seemann um. Als der virtuelle Sturm nachlässt, richten sie sich wieder auf und singen: „Bei Windstärke vier, da tranken wir Kööm und Bier.“

Im Jahr 2014, zum hundertsten Jahrestag der deutschen Kapitulation, ist der ganze Chor nach Tsingtau geflogen. Wenn man von Seeseite kommt, erhebt sich die alte deutsche Siedlung auf einem kleinen Hügel, der von einer evangelischen Kirche gekrönt wird. Die Straße dahin ist von prächtigen Gründerzeit-Häusern gesäumt. Von der Kolonialzeit Deutschlands ist vor allem die Brauerei geblieben, die heute zu den sechs größten Brauereien der Welt zählt und halb China mit Bier versorgt.

Die Chinesen haben die deutschen Sänger herzlich empfangen, und die Kameradschaft hat ihre Shantys geschmettert. An der Stelle, wo die kaiserliche Garnison einst ihre Toten begrub, sangen sie „Ich hatt’ einen Kameraden“ von Ludwig Uhland und Friedrich Silcher. Anschließend haben sie auf einem Hügel einen Denkstein enthüllt, in dem sich die beiden Völker zu ewiger Freundschaft verpflichten. Wenigstens in Tsingtau hat man aus der gemeinsamen Geschichte gelernt.

Das Bier aus Tsingtau gibt es auch in den großen Getränkehandlungen in Esslingen zu kaufen, aber die Seebären bleiben bei ihren allwöchentlichen Treffen beim schwäbischen Hofbräu. „Haben wir ’ne Pfeife dabei?“, fragt der Chorleiter Hendrik Schluricke. „Sind doch alles Pfeifen“, kommt die trockene Antwort aus einem Winkel. Ein vierschrötiger Seebär mit Backenbart steht auf und erklärt: „Das nächste Lied handelt vom Seemannsgarn. Das ist der Garn, mit dem der Seemann seine Stümpfe stopft.“ Dann zückt er seine Bootsmannspfeife, der Chorleiter reckt sein Akkordeon, der Gitarrist blickt auf, der Trommler geht in Stellung, und es geht los.

Die Männer singen mit einer Inbrunst, dass der Sand von den Sandsteinen bröckelt. Ein gewaltiger tiefer Gesang, die Männern schmettern: „Und dann auf See, und kein Schiff, und den Seesack im Nacken, und den Frost an den Hacken . . .“