Zum Abschluss des Jahres haben sich die Esslinger Stadträte mit 60 Themen beschäftigt – ganz ohne Pause.

Entscheider/Institutionen : Kai Holoch (hol)

Esslingen - Um 20.27 Uhr hat Dilek Toy einen starken Drang verspürt. Bereits seit 15 Uhr saß die Stadträtin der Gruppierung Für Esslingen an diesem Montag mit 36 weiteren Stadträten im Bürgersaal des alten Rathauses – und mit Ausnahme einer kleinen Unterbrechung zwischen dem nichtöffentlichen und dem öffentlichen Teil um kurz vor 16 Uhr hatte das Gremium durchgehend getagt. Dennoch war es zu diesem Zeitpunkt erst bei Tagesordnungspunkt 27 von 60 angekommen.

 

Nun beantragte Toy eine Sitzungspause mit der Begründung, dass sie keine Abstimmung verpassen wolle. Es lässt sich nur spekulieren, ob der Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Zieger anders reagiert hätte, wenn ein anderes Ratsmitglied als ausgerechnet die für ihre oft ab und ausschweifenden, den Imperialismus verdammenden Wortbeiträge bekannte Toy diesen Vorstoß unternommen hätte. So jedenfalls wies Zieger die Bitte ziemlich brüsk zurück.

Einen Anspruch auf eine Pause gibt es nicht

Es stehe jedem Ratsmitglied offen, während der Sitzung auf die Toilette zu gehen. Einen Anspruch auf eine Pause gebe es ebenso wenig wie darauf, die Möglichkeit zu erhalten, an allen Abstimmungen teilnehmen zu können. Schließlich werde im Protokoll vermerkt, welche Stadträte bei welcher Abstimmung abwesend waren. Gerne könne sich Dilek Toy bei der zuständigen Aufsichtsbehörde über die rechtlichen Vorgaben erkundigen.

Das Regierungspräsidium Stuttgart (RP) bestätigt zumindest weitgehend, dass das politische Ehrenamt rein rechtlich eine ziemlich starke Blase braucht, will es im Ratsrund nichts verpassen. Es entspreche „nicht der üblichen Praxis, Gemeinderatssitzungen für einen Toilettengang eines einzelnen Gemeinderatsmitglieds zu unterbrechen“, teilt die Pressestelle des RP auf Anfrage mit. Bei einem Antrag auf eine längere Sitzungsunterbrechung allerdings handele es sich um einen Geschäftsordnungsantrag, über den grundsätzlich der Gemeinderat entscheiden müsse.

An dieser Position mag in Esslingen grundsätzlich niemand rütteln. Allerdings gibt der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Koch zu bedenken, dass der Oberbürgermeister in Zukunft gut beraten wäre, wenn er angesichts einer derart langen Tagesordnung mit 60 Tagesordnungspunkten, darunter mehr als 20 für Esslingen weit reichenden Entscheidungen, schon im Vorfeld der Sitzung eine Pause einplanen würde. Koch: „Sonst werden viele mit großer Sorgfalt vorbereitete Entscheidungen nur noch von einem übermüdeten Gremium abgenickt.“ Solche Sitzungen seien aus seiner Sicht nicht nur für das politische Ehrenamt, also für die Stadträte, sondern auch für die Verwaltung und dabei insbesondere auch für den Oberbürgermeister als Sitzungsleiter „unzumutbar“.

Der Ältestenrat beschäftigt sich mit dem Thema

Allerdings habe man, so betont der Sprecher der Stadt, Roland Karpentier, das alljährlich vor der Sommerpause und zum Jahresende auftretende Problem von Sitzungen mit überlangen Tagesordnungen durchaus erkannt. Auch die Fülle des Materials – am Montag hätte jeder Stadtrat mehr als 1000 Seiten durchlesen müssen, um umfassend auf dem Laufenden zu sein – sei ein Problem. Der Ältestenrat werde sich demnächst zusammensetzen, um über Lösungen nachzudenken. Leicht wird das allerdings nicht werden, wenn man bedenkt, dass in diesem Jahr wegen des Ende 2017 beschlossenen Doppelhaushalts 2018/2019 nicht einmal über den Etat entschieden werden musste. Für Ausschusssitzungen gibt es bereits Absprachen. Diese Gremienarbeit muss nach spätestens vier Stunden beendet sein. Einen 30-Minuten-Aufschlag gibt es nur, wenn alle Ausschussmitglieder dem zustimmen.

Der CDU-Fraktionschef Jörn Lingnau bringt für den Gemeinderat „notfalls die Aufteilung der Tagesordnung in zwei Sitzungen“ ins Gespräch. Andreas Koch wiederum regt an, die aus Kostengründen vor Jahren gestrichene Sitzungsbrezel zumindest bei solch langen Tagesordnungen wieder einzuführen, um den Blutzuckerspiegel zu normalisieren.

Der Vollständigkeit halber: Nach der von Dilek Toy beantragten Sitzungsunterbrechung ging die Sitzung am Montag vergleichsweise schnell und ohne weitere ausschweifende Diskussionen zu Ende. Gegen 21 Uhr, also nach sechs Stunden, konnten sich die Stadträte zur alljährlichen Weihnachtsfeier zurückziehen – nicht, ohne vorher noch einmal auf einer Toilette vorbeigeschaut zu haben.