Für Menschen mit Essstörungen ist der Festtagsbraten an Weihnachten oft eine Zumutung. Wie verhalten sich Freunde und Angehörige in so einer Situation richtig, und was können Betroffene selbst tun? Experten von der Filderklinik geben Tipps.

Filder - Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt, von der Oma gebackene Plätzchen oder der Braten an Heiligabend. Für Menschen mit Essstörungen sind die Festtage oft wie ein Spießrutenlauf um volle Teller: Weihnachten setzt sie unter Druck. Auch für Verwandte, Freunde und Bekannte ist die Situation dann oft nicht leicht. Wie verhält man sich an der festlich geschmückten Tafel, wenn gegenüber jemand sitzt, der magersüchtig ist oder Bulimie hat?

 

Der Kinder- und Jugendpsychiater Karl-Heinz Ruckgaber rät betroffenen Eltern, das Thema Essen in dieser Zeit nicht besonders hervorzuheben: „Keine Kommentare zur Figur, keine Vorwürfe und kein Drängen“, sagt er. Die Liste mit unpassenden Formulierungen ist lang: Sätze wie „Man nimmt nicht zwischen Weihnachten und Neujahr zu, sondern zwischen Neujahr und Weihnachten“ oder Aufforderungen wie „Dieser eine Weihnachtsbraten entscheidet nicht über Leben und Tod“ werden oft einfach so dahin gesagt. Doch Menschen mit Essstörungen können sie ins Unglück stürzen.

Unbedachte Sätze können Menschen mit Essstörung ins Unglück stürzen

Aus Sicht des Kinder und Jugendpsychiaters ist es vor allem wichtig, eine Atmosphäre der Behaglichkeit zu schaffen und dabei authentisch zu bleiben. So sieht das auch der Mediziner Jan Vagedes. Für Menschen mit Essstörungen und deren Umfeld sei Weihnachten immer „eine große Herausforderung“, sagt der leitende Arzt der Kinder- und Jugendmedizin an der Filderklinik und fügt hinzu: „Was das Jahr über in den Schubladen war, kommt in der heiligen Stimmung oft heraus, und dann kracht es in den Familien.“

Im Internet sind viele Tipps für ein harmonisches Fest zu finden, auch speziell für Menschen, die an Essstörungen leiden. Auf der Homepage www.psychosomatik-online.de, einem Blog für Psychologen und Psychotherapeuten, heißt es: „Lenken Sie den Fokus auf das, was in dieser Zeit Freude macht – unabhängig von Kalorien.“ Nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Patienten selbst sollten sich im Vorfeld auf schwierige Situationen einstellen und sich überlegen, wie sie damit umgehen können ohne zu dramatisieren. Für den Fall der Fälle sollte man als Betroffener auch einen Notfallplan haben und wissen, mit wem man an den Feiertagen über seine Probleme sprechen kann. Das könne ein Mitpatient oder der eigenen Therapeut sein, heißt es auf der Internetplattform.

Dann kommen die ganzen Probleme auf den Tisch

Professionelle Hilfe gibt es zum Beispiel in der Filderklinik. Dort werden durchschnittlich etwa 100 bis 150 junge Menschen ambulant und 60 bis 65 Patienten stationär betreut. „Magersucht ist eine extrem gefährliche Erkrankung im Kindes- und Jugendalter“, verdeutlicht Jan Vagedes. Bei der Aufnahme hätten manche eine Körpertemperatur von nur noch 35,5 Grad Celsius und eine Herzfrequenz von 32 Schlägen pro Minute. Zum Vergleich: Bei einem gesunden Menschen sind es 50 bis 100 Schläge. Die meisten der Patienten seien bereits ein Jahr krank gewesen, bevor sie in die Filderklinik gekommen seien. „Eine Gewichtsgrenze nach unten haben wir nicht, da wir ja auch eine angegliederte Kinderklinik haben“, erklärt Karl-Heinz Ruckgaber. Die Aufnahme erfolge erst nach mehreren „Vorstellungsgesprächen“ – gemeinsam mit der Familie.

Dies sei meist der schwierigste Part, denn nicht nur die Krankheitsbilder, sondern auch die Beziehungslandschaften hätten sich in den letzten Jahrzehnten verändert. „Wir erleben immer mehr Broken-Home-Syndrome, wo die ganzen Probleme dann hier bei uns auf den Tisch kommen“, erklärt Jürgen Weik. Er ist Heilpädagoge und Systemischer Familientherapeut an der Filderklinik.

Die Seele wird von zwei Seiten beeinflusst

Die Ursachen für eine Essstörung sind laut Vagedes stets vielschichtig: „Das können Probleme in der Familie sein, die Veranlagung zum Perfektionismus, übersteigerter Ehrgeiz oder auch eine genetische Disposition.“ Mögliche Ursachen seien auch tiefe Trauer und Kummer oder ein Übergriff, der einen zu einem Geheimnisträger werden lasse. Den vielfältigen Ursachen stehe in der anthroposophischen Klinik ein entsprechend umfassender Therapieansatz gegenüber. „Wir sagen, dass die Seele von zwei Seiten beeinflusst wird: leiblich und geistig“, erklärt Ruckgaber. Auch die Seele müsse wieder genährt werden. Eine Möglichkeit dafür sei zum Beispiel die Kunsttherapie. Andererseits müsse man sich auch konkret um den Leib kümmern, was durch Bäder in ätherischen Ölen und Bewegung wie Eurythmie geschehe. Dazu kommen schulmedizinische Elemente, Biografiearbeit und das Leben in der sozialen Gemeinschaft.

Die Menschen, die von den Experten der Filderklinik betreut werden, fühlen sich zu dick, obwohl sie objektiv untergewichtig sind. „Körperschemastörung“ nennen das die Fachleute. Dabei geht nicht nur der Appetit verloren, sondern auch der Lebenshunger. Genau den gelte es, wiederzufinden – und zwar nicht nur an Weihnachten.