Die estnische Hauptstadt Tallinn ist eine der attraktivsten Städte Europas. Spannend wird es in den Hinterhöfen der Altstadt.

Was mag hinter dem Schlitz in der schiefen Fassade stecken? Drückt man einen etwas verborgenen Knopf, geht eine hölzerne Pforte auf. Darin erscheint ein Mann wie aus einem russischen Märchenfilm, im Kapuzenpulli, mit blitzblankem Schädel und Zottelbart. Ein Mönch, möchte man meinen, liegt aber grundfalsch. Anatoli ist Künstler und leitet das ukrainische Gemeindezentrum, in das er freundlich einzutreten bittet. Eine friedvolle Oase inmitten der mächtigen Altstadtmauern. Mit kleinem Garten und Skulpturen im Hinterhof. Mit Werkstätten, in denen geschnitzt, getöpfert und Papier geschöpft wird. Und nicht zuletzt mit der liebevoll restaurierten ukrainischen griechisch-katholischen Kirche - ein wunderbarer Ort für Andacht und Gebet. Geweiht sei die Kirche der Dreihändigen Gottesmutter, erzählt Anatoli, während er Fleisch für seine Abendgäste schmort. Sie beschütze alle zu Unrecht Bestraften. „Wenn ihr diesbezüglich Probleme habt, einfach auf einen Zettel schreiben und in den Briefschlitz werfen. Dann kümmert sie sich um eine Lösung.“ Himmlische Idee!

 

In Tallinns Hinterhöfen

Für Stadtführer Eduard Kohlhof sind Begegnungen wie diese das Salz in der touristischen Suppe. Sein Credo: „Begnügt euch nicht mit den Bilderbuchfassaden, den Mittelalterkulissen und dem Hansezeit-Flair. Steckt eure Nase überall rein. Schaut in die Hinterhöfe und fragt auch mal nach, ob ihr eintreten dürft.“ Mit dieser Taktik landet man in einer winzigen Bäckerei, in der ein verhutzeltes Mütterchen zur Verblüffung aller selbst die Kleinstbeträge für ein paar Mandelkringel per Kreditkartenzahlung abwickelt. „Das ist hier so normal wie freies WLAN“, sagt Eduard lachend und erinnert stolz an den Pioniergeist seiner Landsleute: „Denkt mal an Skype - wer hat’s erfunden? Wir Esten!“ Stimmt! Über enge Wendeltreppen steigt Eduard mit seinen Gästen im Schlepptau auf wuchtige Stadtmauertürme, die von Etage zu Etage nette Überraschungen in petto haben - mal ein Meister-Atelier, mal ein Holzspielzeug-Museum, mal eine geheime Party-Location - und ganz oben sensationelle Blicke auf Dächer, Mauern und Wolken freigeben. Im Katharinengang, einer von Bögen überspannten Altstadtgasse, schleust er die Gruppe durch die Hinterzimmer etlicher begnadeter Frauen und Männer, die hier hochwertige estnische Mode fabrizieren.

Im Marzipanmuseum zaubert Eduard seinen Freund Otto aus der Trickkiste. Der kennt sich wie kaum ein anderer aus im Universum der feinen Mandel-Süßspeise. Über 50 Jahre hat Otto für die estnische Traditionsfirma Kalev gearbeitet. Während nebenan Marzipanmalerin Heli ihren Figuren und Torten Farbe verleiht, erzählt Otto in entzückend altmodischem Deutsch, dass Marzipan ursprünglich nicht als Süßigkeit galt, sondern als Arznei. Die Marzipankünstler von Reval, wie Tallinn bis 1918 hieß, belieferten den Hof des russischen Zaren, und auch die roten Herrscher im Sowjetreich waren scharf auf die edle Masse. Zwei volle Tage durchstreifen die Besucher Tallinn auf diese intensive Art und Weise. Und ausschließlich zu Fuß - auch das ein Vorzug des kompakten Altstadtkerns rund um Rathausplatz und Domberg. Vielerorts fasziniert der Charme des Unfertigen und des Umbruchs. Wie lange das noch so bleiben wird, vermag Eduard nicht vorherzusagen. „Jetzt haben hier die Investoren das Sagen, und bei dieser Superlage am Meer sind wir hier auf Kurs Richtung Gentrifizierung.“ Sagt’s ein bisschen bedauernd und biegt dann mit Elan ein auf den „Kulturkilometer“, den es seit 2011 gibt, als Tallinn Kulturhauptstadt war. Dort werden die Besucher erneut beschäftigt sein - vor und hinter den Kulissen.