Estland hat sich von der russischen Besatzung längst befreit. Man orientiert sich nach Westen – zur EU. Doch so einfach lassen sich die Traumata der Vergangenheit nicht abschütteln.

Tallin - Zwanzig Mädchen, jedes nicht älter als zehn Jahre, stehen in einem schmucklosen Klassenzimmer aufgereiht nebeneinander und proben für den bisher größten Auftritt ihres Lebens. Das Kinn emporgehoben, die Arme fast militärisch angelegt. Ins Haar haben einige eine Blume gesteckt. Sobald die Musik vom Band ertönt, singen sie über die Freiheit und die Schönheit ihres Landes – estnische Volkslieder für das Fest Laulupidu. Das Liederfest ist eine der größten Veranstaltungen für Laienchöre weltweit. Früher, als das Land von den Sowjets besetzt war, sangen die Esten die Lieder als Zeichen des inneren Widerstands. Jetzt, fast 30 Jahre später, singen sie auch russischstämmige Kinder, die Estland als ihre Heimat bezeichnen.