Einem Organspender dürfen Organe erst entnommen werden, wenn sein Gehirn tot ist. Doch der Körper ist dann noch warm, die Organe funktionieren. Eine Minderheit im Deutschen Ethikrat hält hirntote Patienten daher für lebendig – und zieht einen überraschenden Schluss daraus.

Stuttgart - Der Hirntod ist aus Sicht des Deutschen Ethikrats ein sinnvolles Kriterium für die Organspende. Das Gremium greift in einer Stellungnahme die Kritik auf, dass man es beim Hirntod oft nicht mit einer Leiche zu tun habe. Der Körper ist noch warm, er kann sogar Fieber haben, er zeigt Reflexe, die meisten Organe funktionieren noch. Einem solchen Patienten das Herz oder die Leber zu entnehmen, töte ihn erst. Der Ethikrat wendet sich gegen diese Kritik und empfiehlt einstimmig, die bisherige Praxis beizubehalten, dass Organe entnommen werden dürfen, nachdem Ärzte den Tod des gesamten Gehirns festgestellt haben.

 

Die Einstimmigkeit verschleiert jedoch einen Dissens innerhalb des Ethikrats. Tatsächlich ist das Gremium gespalten: sieben Mitglieder halten einen hirntoten Patienten in gewisser Weise für lebendig, weil der Körper nicht allein durch das Gehirn gesteuert werde. Sie halten es aber trotzdem für gerechtfertigt, dem Patienten Organe zu entnehmen, wenn er sich das so gewünscht hat. Damit töte man den Patienten nicht – man lasse ihn vielmehr sterben. So gelangen diese sieben Ethikratsmitglieder letztlich zum selben Ergebnis wie ihre 18 Kollegen, die den Hirntod mit dem endgültigen Tod gleichsetzen, weil die Person ausgelöscht sei, wenn ihr Hirn unwiderruflich versagt: Nach dem Hirntod dürfen Ärzte einem bereitwilligen Spender Organe entnehmen.

Zwei Lager im Ethikrat

Der Medizinethiker Urban Wiesing von der Universität Tübingen ist überrascht: Zum ersten Mal höre man aus einem so offiziellen Gremium in Deutschland Zweifel daran, dass der Hirntod auch der Tod eines Menschen ist. Die Mitglieder fordern sogar einstimmig, bei der Information der Bürger auf diese Zweifel hinzuweisen. Obwohl er den Ethikrat für seine Transparenz und Ehrlichkeit in der Debatte lobt, sagt Wiesing Schwierigkeiten bei der Aufklärung voraus: „Wie wollen Sie das den Bürgern vermitteln?“ Der Medizinethiker Giovanni Maio von der Universität Freiburg findet es folgerichtig: „Die Zweifel am Hirntodkriterium sind in der wissenschaftlichen Debatte virulent. Wir sind es in dieser schwierigen Frage den Bürgern schuldig, sie über diese Debatte aufzuklären.“

Zunächst sieht es so aus, als wolle der Ethikrat den Kritikern eine Brücke bauen: Selbst wenn Ihr findet, dass ein warmer Körper mit einem schlagenden Herz noch lebt, müsst Ihr doch einsehen, dass der Patient nicht zurückkommen wird, wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert, lautet ihre Argumentation. Einen hirntoten Patienten können die Ärzte nicht mehr heilen, sie können höchstens seinen Körper am Leben erhalten. Der Patient habe „Empfinden und selbst die basalsten Kommunikations- und Schmerzfähigkeitsmöglichkeiten verloren“, heißt es in der Stellungnahme. „Eine Rückkehr in ein personales Leben ist ausgeschlossen.“ Ähnliche Fälle kenne man aus dem Endstadium anderer Krankheiten – und in diesen Fällen frage man danach, was der Patient für diese Situation bestimmt hat oder mutmaßlich gewollt hätte. Würde sie oder er es begrüßen, wenn nun die noch funktionierenden Organe einem anderen Menschen helfen? „In Rede steht hier die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen über seine leiblich-seelische Integrität“, schreiben die sieben Mitglieder des Ethikrats.

Doch über diese Brücke können die Kritiker des Hirntodkriteriums nicht gehen. Die 18 anderen Mitglieder des Ethikrats ziehen eine klare Linie: Wenn man zum Ergebnis kommen sollte, dass der Hirntod nicht der endgültige Tod eines Menschen sei, dann dürfe man hirntoten Patienten keine Organe entnehmen, weil man sie damit töte. Den Vergleich zu anderen Krankheiten im Endstadium lehnt die Mehrheitsgruppe im Ethikrat ab: „weil im Fall des Sterbenlassen aufgrund Therapieverzichts der Patient an seiner Krankheit und nicht durch einen Eingriff Dritter stirbt“. Mit anderen Worten: eine Operation ist etwas anderes als das Abschalten einer lebenserhaltenden Maschine. Auch Giovanni Maio sieht in der Organentnahme bei einem lebenden Menschen einen „Tötungsakt, der sich eindeutig davon unterscheidet, einen Menschen sterben zu lassen“.

Gesetzliche Regelung gefordert

Damit die Organe weiter durchblutet werden, muss die Maschine angeschaltet bleiben (siehe Seite 3 zum Ablauf der Organspende). Das Anlassen der Maschine bringt den Ethikrat auf einen anderen Punkt: Manchmal würden Patienten in einer Verfügung ausschließen, dass man ihren Körper mit allen medizinischen Mitteln am Leben erhalten soll. Wenn sie sich aber zugleich als Organspender anbieten, gerate der Arzt in einen Konflikt, weil mit dem Abschalten der Maschinen auch die übrigen Organe bald sterben werden und sich dann nicht mehr transplantieren lassen.

Der Ethikrat fordert hier eine gesetzliche Regelung, drei Mitglieder wenden sich jedoch dagegen, weil sie bestreiten, dass es überhaupt ein Problem gibt. Sie schreiben: „Der ärztliche Behandlungsauftrag konzentriert sich auf das Wohl des Patienten und nicht auf eine theoretische Möglichkeit zur Organspende.“ Urban Wiesing wiederum sagt, dass Organspenderausweis und Patientenverfügung sich durchaus gelegentlich widersprechen. Er schlägt jedoch vor, diesen Konflikt anders zu regeln als durch ein Gesetz – „zum Beispiel durch entsprechende Formulierungen in der Patientenverfügung“, die bestimmte medizinische Maßnahmen doch erlauben, wenn sie für die Organspende nötig sind.

Fehlendes Vertrauen in das Organspendesystem

Weil viele Patienten lange und zum Teil vergeblich auf ein Spenderorgan warten, hat der Bundestag im Juni 2012 beschlossen, alle Krankenversicherten regelmäßig zu fragen, ob sie im Fall ihres Todes zu einer Organspende bereit wären. Die Krankenkassen haben daraufhin Informationsmaterial und Spenderausweise verschickt. Der Ethikrat ist mit der ersten Aussendung aus dem Jahr 2013 unzufrieden, weil er zwischen den Kassen erhebliche Unterschiede entdeckt. Zum Teil wurden veraltete Zahlen genannt, auch sachliche Fehler kamen vor. Vor allem kritisiert der Ethikrat, dass in vielen Fällen die Optionen auf dem Spenderausweis nicht ausreichend erläutert worden seien. Was bedeutet es zum Beispiel, die Entscheidung auf eine Vertrauensperson zu übertragen, und was bedeutet es, den Ausweis nicht auszufüllen?

Der Medizinethiker Giovanni Maio von der Uni Freiburg teilt die Kritik. „Das größte Problem ist, die Bürger objektiv und vorurteilsfrei aufzuklären“, sagt er. „Derzeit wird suggeriert, als seien alle Fragen geklärt und die Einwilligung in die Organspende eine Bagatelle.“ Die Beratung soll ergebnisoffen sein und jeder Befragte ist in seiner Entscheidung frei – diese Prinzipien sollten Maio zufolge ernster genommen werden. „Man muss vermeiden, dass verkappte Werbekampagnen als ausgewogene Information ausgegeben werden“, sagt er.

Verbesserungen im System

Der Ethikrat nennt in seiner Stellungnahme einige schlechte Vorbilder. Eine Krankenkasse lässt zum Beispiel nur einen Gegner der Organspende zu Wort kommen, der sagt, er wisse zu wenig über das Thema. Diskutiert werden sollten nach Ansicht des Ethikrats etwa die Bedenken, dass sich die Angehörigen nach der Organspende nicht richtig vom Verstorbenen verabschieden könnten. Denn darauf könnte man entgegnen, „dass der Leichnam in würdigem Zustand zur Bestattung zu übergeben und den Angehörigen zuvor Gelegenheit zu geben ist, den Leichnam zu sehen“.

Auch der Medizinethiker Urban Wiesing von der Uni Tübingen setzt auf eine offene Diskussion und erwartet, dass die Stellungnahme des Ethikrats ungeachtet ihres komplizierten Fazits (siehe 1. Seite) das Vertrauen in das Organspendesystem erhöhen wird. Um mehr Spenderorgane zu gewinnen – ein Ziel, das Wiesings Fachkollege Giovanni Maio ablehnt, weil er die Frage für so elementar und persönlich hält, als dass man moralischen Druck ausüben dürfe – fordert Wiesing Verbesserungen innerhalb des Organspendesystems. „Unsere niedrige Spenderquote liegt auch daran, dass wir nicht alle Chancen nutzen“, sagt er. „Es gibt zum Beispiel immer noch Krankenhäuser, die sich nicht angemessen um das Thema kümmern.“

Wie eine Organspende abläuft

Diagnose – Ärzte können den Hirntod feststellen, nachdem das Gehirn schwer geschädigt wurde. Sie können sich dabei auf bildgebende Verfahren stützen, die den Stoffwechsel im Gehirn sichtbar machen, und müssen außerdem verschiedene Reflexe prüfen. Der Ethikrat schreibt, dass zuverlässig zwischen einem Ausfall des gesamten Gehirns und anderen Zuständen wie dem Wachkoma unterschieden werden könne. Um die Unumkehrbarkeit des Hirntods festzustellen, muss die Untersuchung nach einigen Stunden wiederholt werden.

Transplantation – Der hirntote Patient wird künstlich beatmet und erhält Medikamente, die den Blutfluss gewährleisten und eventuell Hormone ersetzen, die das Gehirn nicht mehr produziert. Im OP-Saal werden die Organe vor der Entnahme von einer Konservierungslösung durchströmt; das Herz hört auf zu schlagen. Auf eine Narkose wird verzichtet, da das Gehirn keine Schmerzreize mehr verarbeiten kann. Es können aber „motorische Reflexe auftreten, die über das Rückenmark geleitet werden und wie bewusste Bewegungen des Organspenders erscheinen“, berichtet der Ethikrat.

Bestattung – Nach der OP werden die Wundhöhlen verschlossen und Katheter entfernt. Der Ethikrat schildert das Ende der Organspende so: „Der Leichnam ist in einem würdigen Zustand zur Bestattung zu übergeben; den nächsten Angehörigen ist zuvor Gelegenheit zu geben, den Leichnam zu sehen.“