Schlechte Manieren bei Tisch, rüpelhaftes Verhalten im Netz und auf der Straße, in Bus und Bahn – die Umgangsformen verlottern. Aber wird wirklich alles schlechter?

Der Sohnemann haut dem Spielkameraden das Schäufelchen auf den Kopf, der Teenager am Esstisch wischt sich den fettverschmierten Mund am Ärmel ab und der Nachbar pöbelt betrunken auf dem Balkon: In allen drei Fällen möchte man rufen: „Bitte, benimm dich doch!“ – selbst wenn der Spielkamerad es nicht anders verdient hat, gerade keine Serviette zur Hand und der Schampus im Angebot war.

 

Es gibt nun mal Dinge, die macht man nicht. Wirklich? Eher ist es so: Was man nicht macht, was umgekehrt also als gutes Benehmen gilt, das unterscheidet sich nach Zeit und Ort.

Als Adolph Freiherr Knigge 1788 das Werk „Über den Umgang mit Menschen“ veröffentlichte, war das die Initialzündung für moderne Etikette, obwohl ein geschäftstüchtiger Verlag eigentlich erst im Nachhinein noch ein bisschen daran herumwerkelte und Tischsitten hinzufügte.

Kinder lernen von ihren Eltern – auch schlechtes Benehmen

Der „Knigge“ steht seitdem für gutes Benehmen, auch wenn das in letzter Zeit etwas gelitten zu haben scheint. „Umgangsformen sind heute wichtiger denn je“, sagt allerdings Charlotte Jung. Sie ist Theologin, Erzieherin sowie lizenzierte Knigge-Trainerin und bringt in Kursen Kindern, Azubis und Erwachsenen gutes Benehmen nahe.

Manchmal stellt sie dabei fest, dass es bereits an Grundlagen wie der fachgemäßen Handhabung von Messer und Gabel fehlt. Nicht in jedem Elternhaus wird anscheinend darauf Wert gelegt. Wer selbst stets ungeniert in der Nase bohrt, wird wohl kaum den Nachwuchs so gut ausgebildet ins Erwachsenen-Leben verabschieden, dass er in höchster Vollendung den Knigge repräsentiert.

Im Elternhaus von Knigge-Trainerin Jung aber wurde Wert auf die Maßstäbe des Freiherrn gelegt: auf Höflichkeit, Ordentlichkeit und Etikette bei den Mahlzeiten. „Als Kind mussten wir immer stehend am Tisch warten, bis der Großvater kam. Erst dann durften wir uns setzen. Es wurde gebetet, und natürlich musste man beim Essen gerade sitzen.“

Gute Manieren bei Tisch gehören zu perfektem Benehmen wie das Amen zur Kirche. Eine aufrechte Sitzhaltung sieht tatsächlich nicht nur schöner aus als ein zusammengesackter Körper, der beim Essen über einem Handy hängt; sie ist auch gesünder und beugt Verdauungsproblemen vor.

Während sich so mancher sein Mahl heute vor der Glotze reinhaut, wurde im 18. und 19. Jahrhundert – zumindest in den gehobenen Kreisen – die Kultur des Essens zelebriert. Eine Mahlzeit war mehr als nur Nahrungsaufnahme, sie bedeutete Gemeinschaft, Interesse füreinander und Kommunikation: „Wobei früher während des Essens gar nicht gesprochen werden durfte. Nur davor und danach. Heute gilt vor allem: nicht mit vollem Mund reden!“ Denn es sieht nicht immer schön aus, was man da an Zerkautem sehen kann.

„Messer wurden damals natürlich nicht abgeleckt – und werden es auch heute nicht“, erklärt die 72-Jährige. „Außerdem trank man früher nur aus dem Glas, niemals aus der Flasche.“ Der heutige Liebhaber alkoholischer Hopfengetränke dürfte sich über diese Lockerung also freuen.

Doch wie einst gilt Obacht beim Aufstoßen. Luthers „Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?“ taugte nämlich noch nicht einmal im Mittelalter als Maßstab für gutes Betragen bei Tisch, geschweige denn zu Knigges Zeiten.

Früher kam man nicht einfach vorbei – schon gar nicht als Frau

Selbstredend war früher alles deutlich steifer, so Jung: „Wenn man sich verabredete, kündigte man sich an und wollte dann auch Antwort haben. Man kam nicht einfach vorbei. Wenn der Mann einer Dame den Hof machte, dann schrieb er mit Füller eine Einladung und wartete teils Wochen auf eine Antwort.“

Heute klingelt es auch mal während der „Tagesschau“ oder später – noch in den 1990ern übrigens ein Unding – , und vor der Tür steht: eine junge Frau, die einen jungen Mann abholt. Einen Skandal hätte dieses Vorgehen einer jungen Frau im 19. Jahrhundert dargestellt. Es war zudem nicht ungewöhnlich, dass Familien die Töchter verstießen, wenn sie sich vom Falschen küssen ließen.

Heutzutage freut sich hingegen der eine oder die andere über die Existenz schneller, einmaliger sexueller Erlebnisse – und die Möglichkeit, sich jederzeit trennen zu können, ohne den sozialen Stand oder das Dach über dem Kopf zu verlieren.

Allerdings gibt es stattdessen andere Verstöße gegen die Etikette – dass man den anderen, mit dem gerade noch fleißig geturtelt wurde, auf allen Kanälen plötzlich ignoriert, was neuerdings Ghosting heißt. Oder im Internet verunglimpft, sodass es den Tatbestand des Cybermobbings erfüllt. So oder so – schlechtes Benehmen.

„In manchen Kreisen ist schlechtes benehmen das Eintrittsticket“

Gewisse äußere Umstände wie eine Coronakrise sind dem Benimm nicht zuträglich, denn für einen guten Umgang miteinander braucht es Wohlwollen. Gerade in den sozialen Medien aber herrschen Thesen und ein Ton, bei dem Knigge sich im Grabe umdrehen würde.

„In manchen Kreisen ist schlechtes Benehmen natürlich auch das Eintrittsticket“, meint Gabriela Meyer, Autorin („Modern-Life-Etikette“) und Coach: „Diese Menschen wird man schwer zu guten Manieren überreden können, zumindest dann nicht, wenn sie denken, sie wissen und können schon alles und sind ohnehin im Recht. Es gehört Lernbereitschaft dazu, sich zu reflektieren und weiterzuentwickeln.“

Knigges Lehren sind nämlich viel mehr, als nur zu wissen, dass man „Guten Tag“ statt „Ey Alter“ zur Begrüßung sagt und nicht auf den Bürgersteig rotzt. Benehmen ist Lebenshaltung, Freundlichkeit und Respekt.

Benimm-Trainerin Meyer wünscht sich mehr Taktgefühl und Großzügigkeit: „Andere glänzen lassen und echte Anerkennung schenken erhöht nicht nur unser Gegenüber, sondern auch uns selbst. Das macht sympathisch und menschlich, kann uns oft aber sogar auch unseren eigenen Zielen ein großes Stück näher bringen.“

Früher war, so darf man bilanzieren, womöglich manches besser, aber auch unbequemer. „Damals trugen die Männer immer Jackett, und ohne Hut verließ keine Dame das Haus. Selbst die Zugehfrau kam mit Hut“, erzählt Charlotte Jung. „Langärmelige, hochgeknöpfte Blusen und lange Röcke waren Bedingung: maximal 7 cm über dem Knöchel. War ein Rock kürzer, galt man als Hure.