Berlin befürwortet den Beginn von Gesprächen mit Kiew. Eine endgültige Aufnahme in die Union ist allerdings in sehr weiter Ferne.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Die Ukraine ist ihrem großen Ziel, der Aufnahme in die Europäische Union einen kleinen Schritt nähergekommen. Nach Einschätzung der deutschen Regierung hat Kiew sämtliche Reformvorgaben für den Beginn von Beitrittsgesprächen umgesetzt. „Aus Sicht der Bundesregierung erfüllt die Ukraine alle Voraussetzungen, um die EU-Beitrittsverhandlungen im Juni eröffnen zu können“, sagte Europastaatsministerin Anna Lührmann (Grüne). Berlin will sich bei den EU-Mitgliedstaaten dafür stark machen, in den kommenden Wochen einen entsprechenden Verhandlungsrahmen festzulegen und die Gespräche zügig zu beginnen. Wie schnell die nächsten Schritte gegangen werden, wird sich kommende Woche bei einem Treffen der Botschafter der EU-Mitgliedstaaten zeigen. Eine mögliche Entscheidung muss einstimmig erfolgen, doch wie bereits bei anderen EU-Entscheidungen in Sachen Ukraine, hat Ungarn seinen Widerstand angekündigt.

 

Ohne Reformen kein EU-Beitritt

Die Europäische Union hatte sich bereits im vergangenen Dezember darauf geeinigt, Beitrittsgespräche mit der Ukraine zu beginnen. Der endgültige Start wurde allerdings noch an die Umsetzung einiger Reformen gebunden. So sollte die Korruptionsbekämpfung verstärkt werden, der Minderheitenschutz verbessert und der Einfluss von Oligarchen begrenzt werden.

Trotz dieses Erfolges für die Ukraine, liegt ein möglicher Beitritt des Landes zur Europäischen Union noch in sehr weiter Ferne. Der Start der Beitrittsgespräche wäre für Kiew der Beginn eines gewaltigen Reformprozesses, der viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern würde. Denn die Kandidaten müssen nachweisen, dass sie das Gemeinschaftsrecht und alle Abkommen der EU umsetzen können. Das bedeutet, dass unzählige Kriterien erfüllt, tausende Gesetze und Vorschriften angepasst werden müssen. Voraussetzung für einen EU-Beitritt sind etwa ein funktionierendes Rechtssystem und Gewaltenteilung, zudem muss das Einhalten demokratischer Regeln auf allen Ebenen gesichert sein. Auch muss die Wirtschaft so aufgebaut werden, dass sie nach einem Beitritt dem Wettbewerbsdruck im EU-Binnenmarkt standhält, doch allein davon ist die Ukraine noch sehr weit entfernt.

Auch die EU muss sich reformieren

Doch auch die Europäische Union selbst müsste sich vor einem möglichen Beitritt des Landes grundlegend reformieren, um weiter handlungsfähig zu bleiben. So hätte ein solcher Schritt allein wegen der Größe des Landes und der ländlichen wirtschaftlichen Struktur massive Verschiebungen im EU-Haushalt zur Folge. Experten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben berechnet, dass im Fall einer Vollmitgliedschaft bis zu 17 Prozent des gemeinsamen Haushalts des Staatenverbunds nach Kiew fließen würden. Ihren Angaben zufolge wären es rund 130 bis 190 Milliarden Euro aus dem mehrjährigen Budget. Der Gemeinschaftsetat der EU umfasst von 2021 bis 2027 rund 1,1 Billionen Euro.

Die genaue Summe hänge davon ab, welche Annahmen über die Ackerlandfläche und die Bevölkerungszahl für die Ukraine getroffen würden, schreiben die Wissenschaftler. In ihren Berechnungen gehen sie von 70 bis 90 Milliarden Euro Agrarsubventionen für die Ukraine aus. 50 bis 90 Milliarden Euro würden auf die sogenannte Kohäsionspolitik entfallen. Mit diesen Mitteln soll strukturschwachen Regionen beim Wachstum geholfen werden, um wirtschaftliche und soziale Unterschiede in den europäischen Regionen auszugleichen.

Große Verschiebungen beim Verteilen des Geldes

„Angesichts dieses Volumens müsste die EU bereit sein, sich zu reformieren“, schreiben die Experten. Nur so könne die politische Entscheidung, die Ukraine mit einer Beitrittsperspektive enger an sich zu binden, glaubwürdig sein. Das gelte sowohl für die institutionelle als auch für die fiskalische Ebene, also den Haushalt betreffend. So schlagen die Wissenschaftler etwa vor, die Kohäsionsausgaben auf die ärmeren Mitgliedsstaaten zu beschränken. Das aber würde bedeuten, dass EU-Staaten, die jetzt noch Geld aus Brüssel bekommen, nach einem Beitritt der Ukraine leer ausgehen würde – oder sogar zu Nettozahlern würden. Dass sie also mehr Geld nach Brüssel überweisen, als sie zurückbekommen.

Auch eine grundlegende Reform der Sicherheitsarchitektur der Europäischen Union müsste in Angriff genommen werden. Heute weiß niemand, wie der Krieg in der Ukraine enden wird. Die Konfliktlinien zwischen Russland und der EU würden nach einem Beitritt Kiews allerdings viel deutlicher zutage treten als bisher. Darauf müsste sich die Union auch mit einem verteidigungstechnisch glaubwürdigen Umbau einstellen.