Könnte die EU die Flüchtlingskrise auch ohne Abkommen mit der Türkei bewältigen? Einen gemeinsamen Außengrenzschutz gibt es inzwischen, aber die Route über die Ägäis quasi dicht machen geht nicht.

Berlin - Es ist die lautstarke Wiederholung einer alten Drohung: Wenn nicht bis Oktober für türkische Bürger der Visumszwang für Reisen in die Europäische Union entfällt, wird sich die Regierung in Ankara nicht mehr an das Flüchtlingsabkommen vom 18. März gebunden fühlen. So hat es nicht nur Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan schon vor Monaten, sondern gerade auch wieder Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Europäer wissen lassen. Die reagierten allesamt mit dem Verweis auf das Abkommen, dass es die zugesagte Visaliberalisierung eben erst dann geben werde, wenn wiederum die Türkei alle verlangten Bedingungen dafür erfüllt. Dazu gehört unter anderem eine veränderte Anti-Terror-Gesetzgebung, die bisher auch gegen kritische Journalisten oder Oppositionelle eingesetzt werden kann.

 

Eine zügige Liberalisierung scheint daher nicht in Sicht. „Fakt ist“, sagt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber, „die Türkei erfüllt die Kriterien bis heute nicht – ganz im Gegenteil: seit dem gescheiterten Militärputsch hat sich die Situation in der Türkei massiv verschlechtert“. Aus Sicht des Augsburgers dürfte sich daher der Termin „weiter verschieben“. Auch die Bundesregierung beharrt auf die Erfüllung der einzelnen Punkte des Abkommens, das weiterhin „in gegenseitigem Interesse“ sei, wie Außenamtssprecher Martin Schäfer betont. Trotz des Ultimatums von Cavusoglu, der bis Anfang oder Mitte Oktober Ergebnisse fordert, betont auch die Brüsseler EU-Kommission, dass „die Türkei weiterhin liefert“. Die Zahl der pro Tag über die Ägäis kommenden Bootsflüchtlinge ist im Vergleich zur Zeit vor dem Abkommen auf ein Bruchteil reduziert worden. Angesichts der politischen Ereignisse in der Türkei bezeichnet Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Vereinbarung dennoch als „fragil“.

Aber wäre es tatsächlich so schlimm, wenn Ankara nun einen Rückzieher von dem Rückübernahmeabkommen machen würde? Schließlich hat die Europäische Union seither nicht geschlafen und beispielsweise Ende Juni beschlossen, die EU-Agentur Frontex zu einer gemeinsamen Grenz- und Küstenschutzeinheit mit einem mobilen Beamtenkorps auszubauen, die europaweit eingesetzt werden kann. Ein einheitliches Ein- und Ausreiseregister ist ebenfalls auf den Weg gebracht worden.

Ein geordneteres System der Seenotrettung

Europas Regierungen sehen darin zwar einen Fortschritt, aber keinen uneingeschränkten Ersatz für das EU-Türkei-Abkommen. In Junckers Behörde wird es als „Teil eines Ganzen beschrieben“, da sich die Flüchtlingskrise nicht mit nur einer Maßnahme lösen lasse. „Wir müssen das eine tun, ohne das andere zu lassen“, sagt auch Tobias Plate, der Sprecher von Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Die neue EU-Küstenwache könne zwar beispielsweise in Griechenland für ein geordneteres System der Seenotrettung und des Zugangs nach Europa sorgen, aber „die ungefährliche direkte Aufnahme kann eine europäische Küstenwache am Ende nicht erledigen“. So sieht die Abmachung mit Ankara vor, dass für jeden aus Griechenland zurückgenommenen Syrer ein anderer auf legalem Wege aus der Türkei in die EU ausreisen darf und damit das Schlepperwesen unattraktiv gemacht wird. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel betont, dass eine Zurückweisung auf See durch die Frontex-Nachfolgeorganisation nicht in Frage kommt: „Sie muss die Flüchtlinge an Land bringen und dafür sorgen, dass sie einen Asylantrag stellen können.“ Die Route über die Ägäis quasi „dicht“ zu machen, funktioniert in diesem Sinne also nur, wenn der ungeliebte Partner Türkei auf der anderen Seite diese Asylbewerber wieder bei sich aufnimmt, weil sie aus einem zumindest für Flüchtlinge sicheren Drittland kommen.

Ohne diese Regelung blieben die Flüchtlinge wieder in Griechenland sitzen, da die sogenannte Balkanroute unter anderem an der Grenze zu Mazedonien weiter geschlossen ist. Die Alternative wäre die Verteilung auf andere europäische Staaten, die bisher jedoch krachend gescheitert ist. Dennoch versucht die SPD-Fraktion im Europaparlament diese Verteilungsfrage angesichts der Lage der sich verschlechternden Beziehungen mit der Türkei neu auf die Tagesordnung zu setzen. „Obwohl die Türkei ein wichtiger Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise ist, wird die einzige dauerhafte Lösung eine gemeinsame europäische sein“, sagt ihr stellvertretender Vorsitzender Knut Fleckenstein. Auch er hält die bisher ergriffenen Maßnahmen und Gesetze nicht für ausreichend, um den Türkei-Deal ersetzen zu können – doch fordert er Abhilfe, damit die EU auch alleine klar kommt: „Der Ministerrat muss sich jetzt auf die Situation vorbereiten, dass die Türkei ihre Unterstützung für das Abkommen zurückzieht, und einen glaubwürdigen Alternativplan bereithalten.“ Wer wie bisher keine Flüchtlinge bei sich aufnehmen wolle, müsse sich zumindest finanziell daran beteiligen, so Fleckenstein.