Deutschland zahlt derzeit mehr Geld in den EU-Haushalt ein als anderen Staaten. Nun stehen die Verhandlungen über die künftige europäische Finanzplanung an.

Eisenach/Brüssel/Witten - Deutschland zahlt und die anderen profitieren: Mit Sätzen wie diesen trommeln Rechtspopulisten und Nationalisten seit Jahren gegen die EU. Doch die Realität sieht in vielen Bereichen anders aus. Mit Sorge blicken deswegen viele deutsche Regionalpolitiker derzeit nach Brüssel, wo EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger an diesem Mittwoch (2. Mai) Vorschläge zur künftigen EU-Finanzplanung präsentiert. Weil mehr Geld für den Schutz der europäischen Außengrenzen ausgegeben werden soll und Großbritannien vermutlich als Beitragszahler wegfallen wird, soll künftig in anderen Bereichen gekürzt werden. Davon wird aller Voraussicht nach Deutschland betroffen sein.

 

Um was es geht, zeigt ein kurzer Blick auf die Zahlen: Allein aus den europäischen Struktur- und Investitionsfonds stehen Deutschland in der aktuellen EU-Haushaltsperiode rund 19,2 Milliarden Euro zu. Hinzu kommen jährliche Direktzahlungen für die Landwirtschaft in Höhe von 5 Milliarden Euro. Selbst vergleichsweise moderate Mittelkürzungen in diesen Bereichen - derzeit sind sechs Prozent im Gespräch - könnten bedeuten, dass im kommenden Jahrzehnt mehrere Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen. Noch unangenehmer könnte es werden, wenn auch noch die Förderkriterien verändert werden und beispielsweise die ostdeutschen Länder ihren Status als bevorzugt förderungswürdige Regionen verlieren.

Im Osten sind die Sorgen besonders groß

Nancy Deskau aus Thüringen gehört zu denen, die sich Sorgen machen. Die Sozialpädagogin kümmert sich zusammen mit ihren Kollegen von der Eisenacher Ziola GmbH um 35 Alleinerziehende sowie Hartz IV-Familien mit insgesamt 73 Kindern, die durch lange Arbeitslosigkeit auf der Schattenseite der Gesellschaft stehen.

Ohne Geld aus dem Europäischen Sozialfonds, das Thüringen in das Projekt mit dem Namen „Tizian“ stecke, wäre die Begleitung der Familien so nicht möglich. „Wir haben den Wunsch, dass es weitergeht“, sagt Projektleiterin Deskau. Trotz eines stabilen Arbeitsmarkts - die Arbeitslosenquote in Thüringen lag im April mit 5,7 Prozent nur noch knapp über dem Bundesdurchschnitt - steige der Bedarf an Betreuungsangeboten für langzeitarbeitslose Eltern. „Die Wartelisten werden länger.“

Das Projekt der Ziola GmbH zur Integration von Langzeitarbeitslosen läuft noch bis Ende 2019. Die Gesamtförderung dafür liegt nach Angaben des Thüringer Sozialministeriums bei 897 000 Euro. Angesichts der Ergebnisse gut angelegtes Geld, findet Deskau: In den vergangenen drei Jahren seien 18 der von Ziola betreuten Langzeitarbeitslosen durchgestartet - mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder einer Ausbildung. 19 weitere hätten durch Qualifizierung ihre Arbeitsmarktchancen verbessert.

Wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern ist das Geld, das aus Brüssel kommt, in Thüringen noch immer eine beachtliche Haushaltsgröße. Insgesamt erhält das Land nach Regierungsangaben in der laufenden Finanzierungsperiode von 2014 bis Ende 2020 noch mehr als 2,3 Milliarden Euro von der EU. Es fließt in die Verbesserung der Internetversorgung auf dem Land, in Forschungsinvestitionen sowie Arbeitsmarkt- und Integrationsprojekte.

„Ohne die Projekte würde das Land anders aussehen“

Doch nicht nur im Osten, auch im Westen gibt es zahlreiche Beispiele für den erfolgreichen Einsatz von Mitteln aus der EU-Regionalförderung. Eines von ihnen ist die beliebte Fähre über die Ruhr im nordrhein-westfälischen Witten. Mittlerweile nutzen jährlich rund 150 000 Spaziergänger und Radfahrer die 2006 mit Mitteln der EU eingerichtete Möglichkeit, mit dem kurzen Weg über den Fluss einen gefährlichen Umweg über eine stark befahrene Landstraße zu vermeiden. Ohne das Geld aus Brüssel wäre das Projekt nicht zustande gekommen, sind sich die Organisatoren sicher.

Wegen des unerwartet großen Andrangs musste die zunächst für bis zu 16 Passagiere gebaute Fähre jedoch schon bald durch ein mehr als doppelt so großes Schiff ersetzt werden. Gefördert worden war der Bau von Jugendlichen und ihren Betreuern mit EU-Mitteln von rund 72 000 Euro. „Die Fähre ist hier sehr populär“, berichtet Radfahrer Peter Wirtz. Der 67-jährige Rentner nutzt das Angebot bei seinen ausgedehnten Touren gleich mehrmals in der Woche.

Mit dem europaweiten Projekt „Artery“ zur Reaktivierung von Flusslandschaften hatte die EU damit den Anstoß für die Einrichtung der Fähre gegeben, die mit einer Fahrt von wenigen Minuten eine Lücke in dem rund 240 Kilometer langen Ruhrtal-Radweg schließt. Mittlerweile gehört die Tour entlang der Ruhr zu den beliebtesten Strecken in Deutschland und das Tal im Süden des Ruhrgebiets ist zur Attraktion für Anwohner und Touristen geworden.

„Mit dem Erfolg hatten wir nicht gerechnet“, räumt Thomas Strauch, Geschäftsführer der zuständigen Wittener Gesellschaft für Arbeitsbeschaffung (Wabe) ein. Obwohl für die Überfahrt lediglich eine freiwillige Spende verlangt wird, trägt sich die Fähre mittlerweile selbst. Zusätzlich sei es gelungen, Jobs für Menschen zu schaffen, die auf dem Arbeitsmarkt sonst kaum eine Chance hätten, sagt Strauch.

„Ohne die Projekte würde das Land heute anders aussehen“, ist sich Adam Radvanszki sicher, der im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium Projekte des EU-Regionalentwicklungsprogramms betreut. Rund 1,2 Milliarden Euro wurden von der EU für Nordrhein-Westfalen in der laufenden Förderperiode 2014 bis 2020 allein für regionale Projekte zur Verfügung gestellt. Davon sei jedoch bislang lediglich ein Drittel bewilligt, berichtet er.

Gabriel: Deutschland nicht größter Nettozahler sondern Nettogewinner

Vor allem im Ruhrgebiet habe die Mitfinanzierung von Projekten aus EU-Mitteln eine große Bedeutung, heißt es etwa beim Regionalverband Ruhr: In einer Zwischenbilanz für den Zeitraum 2014 bis 2017 beziffert der Verband die in der laufenden Förderperiode durch verschiedene EU-Programme bereits geflossenen Gesamtinvestitionen auf bislang 523 Millionen Euro. Neben Projekten für die regionale Entwicklung profitierten davon auch Programme für den ländlichen Raum oder die Ernährung, wie Schulobst- oder Schulmilchprogramme.

Zugleich bleibt richtig, dass Deutschland unter dem Strich deutlich mehr Geld in den EU-Haushalt einzahlt, als es direkt wieder herausbekommt. Haben deswegen diejenigen recht, die behaupten, man solle das Geld besser ohne den Umweg über die EU in die Förderung der Regionen stecken? Politiker wie Sigmar Gabriel (SPD) warnen vor solchen Gedankenspielen und verweisen unter anderen darauf, dass die deutsche Wirtschaft wie kaum eine andere vom EU-Binnenmarkt profitiere. Die Erzählung, dass Deutschland der größte Nettozahler sei, sei falsch, sagte Gabriel im Januar in Brüssel. In Wahrheit sei Deutschland kein Nettozahler, „sondern wohl der größte Nettogewinner der europäischen Einigung“.