Die Kanzlerin nimmt den Briten den Einigungsdruck. Dafür erntet sie von anderen Teilnehmern überwiegend Unverständnis.

Christopher Ziedler, Brüssel

 

Um zwölf Uhr mittags kamen die Staats- und Regierungschefs am gestrigen Freitag nach frustrierenden Gesprächen am Vorabend zur zweiten Arbeitssitzung zusammen. Dort sollte sich entscheiden, ob – wie Kanzlerin Angela Merkel das ausdrückte – „eine zweite Etappe“ nötig ist, um einen Budgetrahmen für 2014 bis 2020 zu beschließen. Anders als ihr Umfeld, das schon im Vorfeld „zeitlichen Spielraum“ ausgemacht hatte, suchte Ratschef Herman Van Rompuy eine Einigung. „Die Kluft“, so einer aus seinem Kabinett, „ist im Frühjahr nicht kleiner.“

Am Ende versuchten die Teilnehmer vergeblich eine Annäherung. Van Rompuys neuer Verhandlungstext, der in der Nacht auf den Tisch gekommen war, setzte die Obergrenze weiterhin bei 1011 Milliarden Euro und verschob nur die Prioritäten zwischen den verschiedenen Haushaltsposten. Das freute zwar die Franzosen, weil der Belgier gegenüber seinem ersten Plan Kürzungen beim Agrarhaushalt zurücknahm. Eine Gruppe von Nettozahlern – die Regierungschefs aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und den Niederlanden – kamen vorab zu einem Acht-Augen-Gespräch zusammen, aber beharrten auf deutlich stärkeren Kürzungen gegenüber dem Vorschlag der Brüsseler Kommission, der ursprünglich 1091 Milliarden Euro für sieben Jahre vorgesehen hatte.

Inhaltliche Übereinstimmung überrascht Teilnehmer

Vor allem die inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem britischen Premier und der Kanzlerin überraschte viele Teilnehmer. „Merkel ist Cameron in allen Punkten zur Seite gesprungen“, sagte ein EU-Diplomat nach der ersten Verhandlungsrunde verärgert, weil der Brite dadurch keinen Einigungsdruck spürte. Das galt Beobachtern zufolge einerseits für die Höhe: Die Bundesregierung soll ihre Forderung von 960 Milliarden Euro möglicherweise noch verschärft und sich damit auf die Briten zubewegt haben, die Europa angeblich nur 886 Milliarden Euro bewilligen wollen. Und das galt auch bei einem Thema, das schon immer ein Aufreger gewesen ist: die Brüsseler Bürokratie.

200 EU-Beamte verdienten mehr als er selbst, wetterte Cameron übereinstimmenden Aussagen mehrerer Sitzungsbeobachter zufolge gegenüber seinen Kollegen. Dass Kommissionschef José Manuel Barroso nur auf milliardenschwere Sparmaßnahmen der Vergangenheit verwies, gefiel auch Merkel nicht. „Wir machen schon viel“, sagte am Freitag ein Kommissionsmitarbeiter und verwies darauf, dass der jährliche EU-Verwaltungsetat bei acht Milliarden Euro liege, was nur sechs Prozent des Gesamtbudgets ausmache und natürlich nicht nur Gehälter, sondern auch Mieten und Übersetzungen beinhalte. In einem Einzelgespräch mit Barroso versuchte Merkel dennoch, dem Portugiesen ein Zugeständnis abzuringen, das Cameron seinem „brüsselkritischen“ Publikum daheim auf der Insel gut verkaufen könnte.

Angst vor Großbritanniens EU-Austritt motiviert Merkel

Dieses Verständnis für die radikale britische Position lief der Taktik vieler anderer Teilnehmer zuwider. „Deutschland wollte Großbritannien nicht isolieren“, sagte der französische Staatschef François Hollande, der Angaben aus seiner Delegation zufolge genau daran arbeitete und Cameron erst auf einer „späteren Etappe“ einbinden wollte. Darauf, dass ein Veto dem Londoner Premier zuhause nicht nur Glückwünsche, sondern „auch Nachteile“ bringen würde, spekulierten sie in Van Rompuys Mannschaft. Genannt wurden Ärger mit dem liberalen Koalitionspartner und eine schlechte Ausgangslage vor dem so wichtigen Dezembergipfel, der das künftige Gesicht der EU modellieren soll. Doch die Rechnung ging nicht auf. „Sie haben versucht, mich zu ignorieren“, so Cameron selbst nach Ende der Beratungen, „aber ich hatte starke Verbündete.“

Merkels Motivlage war Diplomaten zufolge eine doppelte. Einerseits verweist man in ihrem Umfeld schon lange darauf, dass der künftige EU-Haushalt die Tatsache spiegeln muss, dass 21 von 27 EU-Staaten in einem Defizitverfahren stecken. Anderseits gibt es im Kanzleramt die Sorge, Großbritannien könnte sich ohne Entgegenkommen tatsächlich aus der Gemeinschaft verabschieden – für Deutschland, das den Briten wirtschaftspolitisch traditionell näher steht als Frankreich und den Südländern, ein strategischer Verlust. „Ich möchte ein starkes Großbritannien in der EU“, sagte Merkel dazu Anfang des Monats im Europaparlament: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Großbritannien nicht zur EU gehört.“ Sie tat gestern das Ihrige dazu, dass es nicht so weit kommt.