José Manuel Barroso ruft zu mehr Solidarität auf. Den Bundesbürgern sei nicht klar, wie stark ihr Wohlstand von Europa abhänge, sagt er im Interview.

Stuttgart - Er müsse nicht um eine Wiederwahl kämpfen, sagt Barroso, deshalb habe er die Freiheit, auch unpopuläre Dinge zu sagen. Wenn Europa bestehen wolle, so der Portugiese, müsse es radikaler als bisher umgebaut werden.

Herr Kommissionspräsident, Sie sind zu Besuch in Stuttgart. Fühlen Sie sich hier zurzeit mehr willkommen als in Berlin?


Ich bin nächste Woche in Berlin. Dort steht ein lange geplanter Besuch bei Angela Merkel an. Von daher fühle ich mich sowohl in Stuttgart als auch in Berlin willkommen.

Eine diplomatische Antwort. Die Frage zielte aber darauf, ob das Verhältnis zur Kanzlerin gestört ist, nachdem Sie vergangene Woche bei der Aufstockung des Euro-Rettungsschirmes vorgeprescht sind.


Ich will die Gelegenheit nutzen, das klarzustellen. Erstens will ich unterstreichen, dass die Bundesregierung und die EU-Kommission Seite an Seite stehen im Kampf gegen die Eurokrise. Und ich habe auch nicht den geringsten Zweifel an der deutschen Entschlossenheit zu handeln. Kanzlerin Merkel wird alles in ihrer Macht stehende tun, um die Stabilität der Eurozone zu sichern. Bei anderen, um das einmal klar zu sagen, war das nicht immer so eindeutig. Und zweitens verfolgen wir hundertprozentig dieselbe Linie: Es geht uns um Haushaltsdisziplin, makroökonomische Stabilität und Strukturreformen. Wir als Kommission treiben diese "deutsche" Agenda stark voran. Nicht jeder in Europa teilt diese Linie, Berlin und Brüssel aber schon.

Das mag sein - trotzdem war die Kritik an Ihnen vergangene Woche echt.


Ich war überrascht, dass sich alle Kommentare nur auf einen Paragrafen unseres Gesamtpakets fokussierten. Ich habe gesagt, dass die effektive Kapazität des Rettungsschirms erhöht werden muss – nicht, dass wir über die bereits vereinbarte Summe hinaus gehen sollten. Im Übrigen: Der Vorschlag ist eingebettet in ein umfassendes Programm fiskalischer Konsolidierung und struktureller Reformen, um Stabilität und Disziplin zu garantieren.

Wie begründen Sie Ihren Vorschlag?


Die 440 Milliarden - der Eurozonen-Anteil am Rettungsschirm - sind derzeit nicht voll verfügbar. Und das ist für die Eurozone eine Frage der Glaubwürdigkeit. Wir müssen den Märkten jetzt klar machen, dass wir nicht nur Erklärungen abgeben, sondern Entscheidungen treffen. Und das ist nicht nur die Meinung des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Das ist auch die Position des Präsidenten der Europäischen Zentralbank.

Wir reden also ganz konkret über die fehlenden 180 Milliarden Euro?


Wir reden darüber, das vereinbarte Volumen des Rettungsschirms effektiv nutzbar zu machen. Wir brauchen das nicht, weil ein bestimmtes Krisenland X oder Y soviel Geld bräuchte. Es ist besser, solche Entscheidungen in einem relativ ruhigen Umfeld zu treffen als unter Druck.

Soll die Rettungsfonds-Firma auch Staatsanleihen kaufen dürfen?


Ich glaube, die Bandbreite ihrer Aktivitäten sollte erweitert werden. Schon deshalb, um einigen Bedenken hier in Deutschland entgegenzutreten. Nämlich dass die Europäische Zentralbank ihre Aktivitäten nicht zu sehr ausweiten sollte. Klar ist, dass wir im Rahmen des Gesamtpaketes fragen, wie eine ausgeweitete Aktivität des Rettungsfonds aussehen könnte. Mir scheint, dass mehr Flexibilität akzeptiert werden sollte, immer natürlich im Gegenzug zu rigoroser Disziplin auf der anderen Seite.

Wie steht es mit der Möglichkeit, dass der Fonds nun auch Teile der Schulden umstrukturieren können soll, etwa die der Griechen?


Die Spekulationen über solche Szenarien sind nicht hilfreich oder sinnvoll. Daran werde ich mich nicht beteiligen.

Nicht nur die Kanzlerin, auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus hat ihnen gleich gesagt, dass er von ihrem Vorschlag nicht viel hält. Er befürchtet eine Versicherungsmentalität bei den Staaten mit schlechter Haushaltsdisziplin.


Diese Gefahr besteht beim Rettungsschirm nicht. Weil wir nämlich keine Zuschüsse leisten, sondern unter strengen Auflagen Kredite geben, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Die sind so hoch, dass ein starker Anreiz besteht, so schnell wie möglich zur normalen Finanzierung zurückzukehren. Die betroffenen Länder tun doch alles um zu vermeiden, unter den Rettungsschirm schlüpfen zu müssen – da die Bedingungen so streng sind. Und die Kommission hat nie gesagt, dass wir die Bedingungen abschwächen sollten, ganz im Gegenteil. Außerdem: Einige der kritischen Bemerkungen, die ich aus Berlin gehört habe, zielten doch eher auf den Zeitpunkt meiner Forderung, weniger auf den Inhalt. Das bedeutet doch, dass es in der Substanz eine Grundlage für eine Einigung gibt.