Union und SPD haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Restgemeinschaft auf das britische Austrittsvotum reagieren soll. Bis Mitte September will man sich einigen – vielleicht.

Berlin - Erst ist es ein politischer Nebenkriegsschauplatz gewesen, nun hat die wirkliche Schlacht begonnen: Unmittelbar nach dem Brexit-Votum stritten sich Union und SPD darüber, wie schnell die Briten formal ihren Austritt aus der Europäischen Union beantragen sollten. Mit einer Woche Verzögerung hebt in Berlin jetzt ein Grundsatzstreit darüber an, wie es weitergehen soll mit der Gemeinschaft.

 

Zwei Knackpunkte zeichnen sich in der Koalition ab: Da ist zum einen die Frage, ob die EU nun einen Umbau benötigt, um ihre vielen Probleme endlich effektiv lösen zu können. SPD-Chef Sigmar Gabriel sähe gerne die Zahl der EU-Kommissare reduziert. Zu „einer echten europäischen Regierung“ gar will der SPD-Europabeauftragte und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz daher die Brüsseler Kommission ausbauen, die wie in den Nationalstaaten auch abgewählt werden könne. „Im Grundsatz bin ich ein Anhänger der Vertiefung“, hat Finanzminister Wolfgang Schäuble für die CDU gekontert, „aber dafür ist jetzt nicht die Zeit.“ Für ihn ist angesichts der großen Europaskepsis „Pragmatismus“ das Gebot der Stunde, die EU müsse in bestimmten Fragen nun schnell Antworten liefern – die Rückkehr von Flüchtlingen nach Nordafrika, die Jugendarbeitslosigkeit, Digital- sowie Energieunion sowie eine gemeinsame Rüstungsbeschaffung der europäischen Militärs. Alles andere soll hinten anstehen.

Die Kanzlerin hält den Streit in der Regierung für kein Unglück

Die zweite Sollbruchstelle in der Bundesregierung bildet die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik, die in den vergangenen Jahren maßgeblich von Deutschland geprägt worden ist. Wirtschaftsminister Gabriel hat sie gerade bei seinem Griechenland-Besuch in Frage gestellt und mehr Investitionen gefordert. Er hinterfragt Schäubles Nein zu einer höheren Verschuldung, wo sich angesichts der Negativzinsen darüber doch eben jene Investitionen leicht finanzieren ließen. Der Kritisierte hielt sich mit Blick auf Gabriel ebenfalls nicht zurück. „Wenn er als SPD-Vorsitzender unterwegs ist in Deutschland und Europa, dann erkenne ich ihn manchmal gar nicht wieder.“ Dort vertrete er „das Gegenteil von dem, was wir in der Regierung machen“. Nur die Einhaltung beschlossener Schuldenregeln könne die Menschen wieder von Europa überzeugen. Bei Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hört sich das anders an, wenn er den Brückenschlag nach Frankreich sucht: „Die Architektur der Währungsunion wird weder ausschließlich regelbasiert sein können oder einzig und allein von politischen Entscheidungen abhängen.“

Dass sich ihre Kabinettsmitglieder streiten wie die Kesselflicker, ist für die Kanzlerin offenbar kein Grund zur Beunruhigung. Es sei, sagte Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert am Montag, „kein Unglück, wenn sich kluge Menschen Gedanken machen“, was nach dem Schock des Brexit-Votums nun in der Europäischen Union passieren müsse: „Jeder Vorschlag ist willkommen.“ Er stellte jedoch auch klar, dass die Kanzlerin den Streit nicht ewig laufen lassen will und sich vor dem EU-Sondergipfel Mitte September in Bratislava mit dem „Spektrum der Parteien“ beraten und eine einheitliche deutsche Position auszuhandeln versuchen wird. Allerdings bezweifeln nicht wenige in Berlin, dass dies mit dem heraufziehenden Wahlkampf noch gelingen kann.

Die Opposition gibt Merkel die schuld für die Spaltung der EU-Mitgliedsstaaten

Schon einmal hat Merkel versucht, einen neuen Mittelweg zwischen Regeltreue und finanzieller Flexibilität zu gehen. 2013 schlug sie ein Eurozonen-Budget vor, mit dem die Länder der Währungsunion zusätzlich etwa beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit unterstützt werden könnten. Als Gegenleistung müssten die nationalen Regierungen sich verbindlich zu Reformen verpflichten. Zumindest in einem ersten Schritt dürfte dieser Ansatz nun jedoch kaum reaktiviert werden. Sowohl im Bundesfinanzministerium wie im Kanzleramt herrscht die Überzeugung vor, dass derzeit nicht die südeuropäischen Länder das Problem darstellen, sondern die Niederlande oder Dänemark, wo es starke Anti-EU-Lager gibt, die mit weiteren finanziellen Vertiefungsprojekten nicht noch gefüttert werden sollen.

Nah beieinander sind CDU und SPD in einem Punkt. So deckt sich Schäubles pragmatischer Ansatz in größeren Teilen mit dem einer „flexiblen“ EU, wie sie Steinmeier mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault vorgeschlagen hat. Wie Schäuble auch schwebt Steinmeier und Ayrault vor, dass kleinere Gruppen von Staaten voranschreiten, etwa in der Flüchtlingspolitik. Der Finanzminister will das allerdings notfalls ohne die EU-Kommission tun, sondern wie bei der Eurorettung zwischenstaatlich regeln.

Die schärfste Kritik daran kommt allerdings nicht aus der Koalition, sondern von der Opposition. „Wolfgang Schäuble betreibt ein Brüssel-Bashing, das weit unter seinem Niveau ist“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die im EU-Ausschuss sitzt: „Die Kommission versucht zumindest, bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gemeinschaftliches Handeln zu fördern. Aber es sind und waren die Regierungen, die so gut wie jede Form der Solidarität hintertreiben.“ Linksparteichef Bernd Riexinger gibt der Bundesregierung „die Verantwortung für die soziale Spaltung innerhalb der Mitgliedstaaten“. Er nannte es am Montag zudem „völlig wahnsinnig, die deutsche Vormachtstellung in Europa zu nutzen, um der deutschen Rüstungsindustrie Aufträge zu verschaffen“.