Eugen Ruges mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist eine Familiensaga aus der DDR.  

Frankfurt - Am 1. Oktober 1989 ist es eigentlich schon zu Ende. Wie jedes Jahr wird der Geburtstag von Wilhelm Powileit gefeiert, der sich vom einfachen Schlosser zum vielfach geehrten Parteiarbeiter emporgearbeitet hat. Aber der Jubilar sitzt in seinem Sessel wie ein alter Saurier (so sieht ihn Urenkel Markus) und lässt das Ritual mit zynischen Sprüchen über sich ergehen. Blumensträuße nimmt er mit "Bringt das Gemüse auf den Friedhof" entgegen, den Vaterländischen Verdienstorden mit "Ich hab genug Blech im Karton".

 

Darüber könnte sein Stiefsohn Kurt Umnitzer noch lächeln, hätte er nicht gerade erfahren, dass sein Sohn Alexander in den Westen abgehauen ist, worauf seine Frau Irina sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und betrunken hat. Der Ausziehtisch mit dem Büfett wird den Tag ebenso wenig überleben wie der Jubilar selbst, der den letzten Rest von Gefühlen - oder auch nur solidarischem Zusammenhalt - zwischen sich und seiner Frau Charlotte zerstörte, indem er plötzlich bellte: "Die wussten schon, warum (...) sie solche Leute weggesperrt haben. Solche wie deine Söhne."

Der 57-jährige Dokumentarfilmer, Dramatiker und Übersetzer Eugen Ruge hat in seinem ersten Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts", für den er schon während der Arbeit den Alfred-Döblin-Preis erhalten hat, auf die eigene Familiengeschichte zurückgegriffen. Sein Vater Wolfgang Ruge, als junger Kommunist 1933 in die Sowjetunion geflüchtet, verlor dort Vater und Bruder und wurde als Zwangsarbeiter nach Kasachstan deportiert. So wie Ruges Vater kehrt Kurt Umnitzer 1956 in die DDR zurück, wird staatstreuer Historiker und legt 2003 eine Autobiografie vor. Kurt ist der überlebende Sohn von Charlotte aus deren erster Ehe. Er ist nicht fanatisch wie sein Stiefvater, er durchschaut sehr wohl die Lügen des Systems, aber ohne daraus für sein Handeln Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht deswegen legt er sich mit seinem Sohn Alexander an, sobald der es wagt, offen gegen die Ideologie zu opponieren.

Familiensaga aus der DDR ist kunstvoll durchkonstruiert

Drei Generationen einer untergehenden Familie werden den Lesern aus unterschiedlichen Blickwinkeln vorgestellt. Den ominösen ersten Oktober erleben sechs verschiedene Figuren aus ihrer Perspektive, womit Eugen Ruge virtuos seine Erzählkunst vorführt. Aus einzelnen Spots setzt er die Zeitläufte zusammen: Man erfährt, wie Charlotte das mexikanische Exil und die Rückkehr in die DDR erlebt, wie Irina ihre Weihnachtsgans zubereitet und sich mit Schrecken an die Zeit erinnert, als sie noch im Haus der Schwiegermutter leben musste, die ihre bürgerlichen Gewohnheiten nie ablegen konnte. Man kann sich in Kurts Zwiespalt zwischen Pflichtbewusstsein und Gewissen einfühlen.

Vor allem aber begleitet man Alexander durch seine Jugend und seine Sinnsuche bis hin ins Jahr 2001. Da fährt der unheilbar Kranke auf den Spuren seiner Großeltern nach Mexiko und findet Ruhe in einer Bucht am Pazifik, nicht ahnend, dass dort Charlotte und Wilhelm ihr letztes Silvester im Exil verbrachten.

Diese Familiensaga aus der DDR ist kunstvoll durchkonstruiert. Dadurch wirkt sie jedoch oft allzu exemplarisch, zumal die Figuren teilweise stark typisiert sind: Wilhelm, der bornierte Stalinist, Charlotte, die brave Kulturarbeiterin, die sich 1961 in die Parteipropaganda einspannen lässt, ohne zu begreifen, was kurz vor dem Mauerbau politisch los ist in ihrem Land; Irina, die "ruhsische Selle", die im Suff die "Wiedervereinigung" der Familie vermasselt. Aber der Vater-Sohn-Konflikt als Kern des Romans ist ein ehrlicher Versuch des Sohnes, den Vater mit all seinen Widersprüchen zu begreifen, und fesselt die Leser ebenso wie manche Fragmente der anderen Lebensgeschichten. Man löst sich oft nur ungern von einer Figur, wenn das folgende Kapitel wieder einen Sprung macht in eine andere Biografie zu einer anderen Zeit.

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 432 Seiten, 19,95 Euro.