Die Grüne Ska Keller, der Linke Alexis Tsipras und der Liberale Guy Verhofstadt haben es schwer, da sie keine realistische Chance auf das Amt des EU-Kommissionschefs haben. Dabei bringen sie den Schwung in den Wahlkampf.

Brüssel - Es ist eine Premiere gewesen am Donnerstagabend im Plenarsaal des Brüsseler EU-Parlaments, den die Regie ganz in europäisches Blau getaucht hatte. Zum ersten Mal traten alle fünf europäischen Spitzenkandidaten für die Wahl am nächsten Wochenende gegeneinander an. Die deutschen Fernsehzuschauer bekamen nicht mehr nur wie vorige Woche im ZDF das Duell zwischen dem Sozialdemokraten Martin Schulz und dem Luxemburger Christsozialen Jean-Claude Juncker zu sehen, sondern eine viel größere Bandbreite an europäischen Meinungen. Denn zur deutschen Grünen Ska Keller und dem früheren belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt gesellte sich erstmals auch der griechische Linke Alexis Tsipras.

 

Der 39-Jährige hatte die Debatte zum Wahlkampfauftakt in Maastricht verpasst, „wegen dringender Termine in Griechenland“, wie er nun in Brüssel zu seiner Verteidigung sagte. Dennoch ist es auffällig, dass der Chef der größten Oppositionspartei die europäische Bühne weniger nutzt als seine Konkurrenten. Das mag daran liegen, dass Alexis Tsipras gar nicht wirklich dorthin strebt. Sein Name soll Wähler auch in anderen südlichen EU-Staaten zur Wahl der Linken animieren, doch konzentriert er sich eindeutig darauf, mit Syriza in Athen an die Regierung zu kommen. Im Europaparlament jedenfalls wird Tsipras so schnell nicht wieder auftreten.

Europa durch Veränderung retten

Dabei hat er durchaus etwas zu sagen. „Die griechische Tragödie darf sich nicht wiederholen. Wir müssen die desaströse Sparpolitik beenden, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen“, rief er am Donnerstagabend in den Plenarsaal, „wir müssen Europa retten, indem wir es verändern. Dieses Europa verteilt nur Armut, Schmerzen und Verelendung.“ Tsipras wiederholt seine Forderung nach einem Schuldenerlass der europäischen Partner für Griechenland, wie er Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Londoner Konferenz von 1953 gewährt wurde. So soll Geld frei werden für neue Investitionen und mehr Entwicklungshilfe, damit der tödliche Flüchtlings-Treck über das Mittelmeer kleiner wird.

Die Brandenburgerin Ska Keller, Jahrgang 1981, kämpft seit ihrem Einzug ins Europaparlament vor fünf Jahren für eine humanere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. „Wir haben den Friedensnobelpreis, aber darum kümmern wir uns nicht“, sagte sie in der Runde. Umso mehr freut sie sich, wenn sie bei einem Wahlkampfauftritt in England auf eine Cricketmannschaft trifft, die sich für zwei Mitspieler einsetzt, die in Abschiebehaft sitzen.

Sie wirkt im persönlichen Umgang manchmal fast schüchtern, ihre Mitarbeiter loben ihre bescheidene Art,betonen aber, dass sie weiß, was sie will. „Mit meiner Arbeit“, schreibt sie auf ihrer Internetseite, „hoffe ich nichts weniger, als die Welt zu verändern.“ Dazu zählt auch, dass sie das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA verhindern will. In der Fernsehdebatte geißelte sie lauthals, dass am Morgen gut 200 Demonstranten festgenommen worden seien, als sie vor dem Brüsseler Tagungsort einer EU-Wirtschaftskonferenz dagegen protestierten.

Der Liberale Verhofstadt will mehr Europa

Ska Keller, die in einer – allerdings kaum genutzten – Onlineabstimmung zur europäischen Kandidatin ihrer Partei gekürt wurde, setzt auf ihre Jugend und auch auf ihre Rolle als einzige Frau im Feld. „Es ist tragisch, dass die anderen Parteien bei ihren älteren Herren geblieben sind“, sagt sie keck, „für ein neues Europa braucht es die ganze Gesellschaft.“

Der liberale Spitzenkandidat Guy Verhofstadt aus Belgien Foto: EPA
Zumindest wirkt Guy Verhofstadt jünger als die 61 Jahre, die der langjährige Ministerpräsident Belgiens inzwischen zählt. Der Liberale gestikuliert am wildesten, wenn er sich zwischen den kostspieligen Programmen der Sozialisten und der finanzpolitischen Härte der Konservativen zu positionieren versucht. Ihm werden nach der Wahl Ambitionen auf den Posten des Parlamentspräsidenten nachgesagt, die er im persönlichen Gespräch freilich weit von sich weist. Er kandidiere für das Amt des Kommissionspräsidenten, beharrt er.

Das dürfte nicht nur angesichts der Umfragewerte unrealistisch sein, sondern auch wegen seiner politischen Positionen. Verhofstadt ist Föderalist, also einer, der einen europäischen Bundesstaat anstrebt. In der Debatte hat er sich in einem Klima verbreiteter EU-Skepsis als einziger getraut, mehr Europa zu fordern. „Wir brauchen eine neue Welle der Integration“, verlangt er und verweist auf den Stillstand der Achtziger, der mit dem Ja zum EU-Binnenmarkt durchbrochen wurde.

Jetzt will Verhofstadt die Bankenkontrolle, die Kapitalmärkte sowie die Bereiche Energie, Digitales und Kommunikation auf europäischer Ebene noch weiter zusammenführen – um „die Größe Europas voll auszuschöpfen und damit neues Wachstum zu schaffen“. Seine Heimat Belgien ist traditionell europafreundlich, doch das lässt Verhofstadt als Begründung nicht gelten: „Ich will mehr europäische Integration, weil ich sie für die Lösung unserer Probleme halte, und nicht, weil ich Belgier bin.“