Die Europaabgeordnete Inge Gräßle aus Heidenheim wird aus dem Europäischen Parlament ausscheiden. Das schlechte Abschneiden der CDU liege auch an der antimodernen Anmutung der Partei, besonders in Baden-Württemberg, sagt sie im Interview.

Stuttgart - Die CDU muss das Ausmaß der Niederlage bei der Europawahl und den Kommunalwahlen erkennen und aus ihren Fehlern lernen, findet die scheidende Europaabgeordnete Inge Gräßle. Sonst drohe ihr die Verzwergung. Besonders viel Erneuerungsbedarf sieht die Heidenheimerin bei der Union in Baden-Württemberg.

 

Frau Gräßle, wie ist das Gefühl, es nach 15 Jahren im Europaparlament nicht mehr geschafft zu haben?

Ich kann im Moment gar keine Gefühle aufbringen, weil ich es gewusst habe. Ich habe das über viele Jahre kommen sehen. Aber ich hätte gerne weitergemacht. Ich bin dankbar, dass ich Abgeordnete sein konnte. Es hat mein Leben bereichert und ich war jede Minute hoch motiviert. Ich fürchte halt, dass jetzt niemand mehr da ist, der sich um den europäischen Finanzstaatsanwalt kümmert. Im Übrigen gibt es sicher einige in Europa, die einen Schampus aufgemacht haben, weil es mir nicht mehr gereicht hat. Das ist das Einzige, was mich ärgert, dass die einen Triumph haben.

Werden Sie in der CDU Baden-Württemberg auch künftig eine Rolle spielen?

Schauen wir mal, wie es kommt. Ich fange jetzt an, darüber nachzudenken, was ich mache. Ich hatte keinen Plan B. Ich glaube, solche Pläne halten einen nur von der Aktion ab. Mir war Europa immer wichtiger als ich. Eines steht aber fest, ich werde sicherlich nicht für den Landtag kandidieren.

Haben der CDU die Themen im Europawahlkampf gefehlt?

Klar ist, dass wir vom Zuwachs an Wahlbeteiligung nicht profitieren konnten. Es sind Leute zur Wahl gegangen, die es mit dem Klimaschutz ernst gemeint haben. Wir haben dagegen den Eindruck stehen lassen, dass wir gar nichts gemacht hätten. Dabei hat das Europäische Parlament eine umfassende Gesetzgebung im Klimaschutz hingelegt. Es war auch klar, dass sich die Internet-Plattformen für unsere Haltung im Urheberrecht rächen würden. Dennoch war das Urheberrecht richtig. Künftig ist die Frage, ob es noch Mehrheiten für das Richtige gibt.

Woran lag das schlechte Abschneiden der CDU?

Ein Grund war sicher, dass das Thema Klima eine wichtige Rolle gespielt hat, und dass das automatisch als grünes Thema wahrgenommen wird. Wir dagegen haben einen Friede, Freude, Eierkuchen-Wahlkampf gemacht und überhaupt nicht plakatiert, wieso die Leute uns wählen sollten. Wir haben auch nicht klar gemacht, dass wir die Vertretung in der Fläche sind, dass wir vor Ort sind um Europa zu erklären. Auf der Liste der CDU in Baden-Württemberg standen nur Baden-Württemberger. Bei den Grünen kriegen Sie den ersten Baden-Württemberger auf Platz zehn. Die kleinen Parteien haben noch einmal dazugewonnen. Deutschland und Baden-Württemberg sind mit diesem Wahlergebnis geschwächt. Unser Einfluss wird beträchtlich kleiner.

Wie wird die CDU nun mit dem Ergebnis umgehen?

Auf Landesebene hat es auch angesichts der Ergebnisse der Kommunalwahlen keinen Wert, das Ergebnis wegzulächeln oder schönzureden. Das ist ein Desaster. Wir haben die Städte verloren und die Grünen ziehen inzwischen auch in Teilen des ländlichen Raums weit an uns vorbei. Wir sind in der Frauenfrage schlecht aufgestellt. Wir muten altmodisch und bürokratisch an. Wir haben aus den bisherigen Verlusten nichts gelernt. Ich habe Bedenken, ob sich das diesmal ändert.

Was wollen Sie dafür tun, dass sich etwas ändert?

Ich möchte mich als Vorsitzende der Frauenunion für eine harte Frauenquote einsetzen. Sonst kommen wir zu nichts. Wir haben in Baden-Württemberg eine reine Männerliste. Das ist ein singulärer Status in der ganzen Republik. Meine Kollegen aus Nordeuropa aber auch aus anderen Bundesländern konnten das gar nicht glauben, dass die erste Frau bei uns in Baden-Württemberg auf Platz fünf kommt. Die Landespartei muss jetzt zeigen, dass sie es ernst meint und darf die Sache nicht wie bisher den Bezirken überlassen. Es ist klar, dass auch die Wahlrechtsänderung im Land kommen muss. Jeder hat kapiert, dass es an der CDU lag, dass aus der Änderung nichts geworden ist. Das ist in den Großstädten ganz schlecht angekommen.

Steht die CDU jetzt vor grundstürzenden Neuordnungen?

Eigentlich schon. Wenn sie das nicht tut, wird sie weiter an ihrer Verzwergung arbeiten. Es kann nicht nur darum gehen, wer bei der nächsten Landtagswahl Spitzenkandidat wird. Wenn wir jetzt keine Schlüsse ziehen, brauchen wir für 2021 gar keinen Spitzenkandidaten.

Heute tagt der Landesvorstand. Was erwarten Sie?

Man kann sich nicht damit begnügen, dass die CDU im Land noch immer über dem Bundesdurchschnitt liegt. Ich fürchte, dass das Ausmaß der Niederlage nicht wahrgenommen wird. Rainer Wieland ist unser Spitzenkandidat seit 2004, seither haben wir jedes Mal verloren und auch dieses Mal war er nicht sichtbar. Das Bezirkssystem in unserer Partei ist leistungsfeindlich. Es führt dazu, dass es durch die Landespartei keinerlei Steuerungsmöglichkeit gibt. Es geht für uns jetzt ans Eingemachte.

Wie steht die CDU öffentlich da?

Die generelle Anmutung der CDU ist konservativ gleich frauenfeindlich, ist antimodern, ist Antiteilhabe, Antiintegration von Migranten. Wir haben 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg. Keiner von ihnen ist wirklich bei der CDU angelandet.

Halten Sie die CDU Baden-Württemberg für besonders rückständig?

Wir sind nicht aufgeschlossen genug. Das gilt besonders für die CDU Baden-Württemberg. Wenn 54 Prozent der Unionsanhänger sagen, die Grünen sind eine moderne Partei, dann stimmt doch bei uns etwas nicht. Die Frage ist jetzt, sind wir bereit für Veränderungen.