Eigentlich ist klar, dass deutsches Recht nur in Deutschland gilt. Im Fall von Aufsichtsratswahlen ist das jetzt gar nicht mehr so klar.

Stuttgart - In der kommenden Woche verhandelt der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg über die Zukunft der deutschen Mitbestimmung. Den Anlass dazu gibt die Klage eines Kleinaktionärs, der den Aufsichtsrat des Touristikunternehmens Tui ausschließlich mit Vertretern der Anteilseigner besetzt sehen will (Rechtssache C-566/15). Bekäme er recht und die Arbeitnehmervertreter müssten den Aufsichtsrat verlassen, dann wäre auch das deutsche Mitbestimmungsgesetz von 1976 europarechtswidrig und müsste geändert werden. Nach der mündlichen Verhandlung, bei der sich am nächsten Dienstag alle Regierungen der EU-Mitgliedstaaten sowie weitere Prozessbeteiligte zu Wort melden können, fällt noch kein Urteil. Vor allem wird zunächst noch der EuGH-Generalanwalt plädieren, dessen Standpunkt bei Verfahren vor dem Luxemburger Gericht traditionell ein großes Gewicht hat. Ein Urteil der Richter wird erst in einigen Monaten erwartet.

 

Das Berliner Kammergericht hat Zweifel

Der Kläger Konrad Erzberger aus Berlin kämpft gegen die Mitbestimmung und wählt dabei den Weg über den Vorwurf der Ausländerdiskriminierung. 80 Prozent der Belegschaft des Tui-Konzerns arbeitet im Ausland. Aber die Beschäftigten der ausländischen Tui-Töchter sind nicht an der Wahl der Arbeitnehmervertreter für den Aufsichtsrat der Dachgesellschaft Tui AG beteiligt und können auch nicht gewählt werden. Außerdem, so argumentiert der Kläger, werde die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU eingeschränkt, weil ein Beschäftigter bei einem Wechsel ins Ausland sein Wahlrecht verliert – und zudem seinen Aufsichtsratssitz, sofern er vorher dem Gremium angehört hat. Erzberger hat zunächst vor dem Landgericht Berlin geklagt und verloren. In zweiter Instanz hat das Berliner Kammergericht noch nicht geurteilt, sondern zunächst einmal die Frage an den EuGH gestellt, ob die deutsche Mitbestimmung gegen das Diskriminierungsverbot und die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt. Die Berliner Richter halten das zumindest für „vorstellbar“.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht dem Prozess keineswegs entspannt entgegen, obwohl sich die paritätische Mitbestimmung mit dem Gleichgewicht von Kapital- und Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat in der Vergangenheit in Deutschland stets als gerichtsfest erwiesen hat. Die EU ist jedoch ein anderes Terrain als Deutschland. So stand die EU-Kommission in der Vergangenheit dem deutschen Modell der sozialen Marktwirtschaft stets skeptisch gegenüber. Daran hat sich offenbar wenig geändert. Es sei unvereinbar mit dem EU-Recht, so heißt es in der Stellungnahme der Kommission, „dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in den Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind“.

Auch der Arbeitgeberpräsident setzt sich für die Mitbestimmung ein

Deshalb haben der DGB und die ihm nahe stehende Hans-Böckler-Stiftung in den zurückliegenden Monaten mobil gemacht. Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hat zusammen mit DGB-Chef Reiner Hoffmann einen Zeitungsartikel verfasst, in dem die Mitbestimmung als große deutsche Errungenschaft bezeichnet wird und in dem die Autoren den Vorwurf der Diskriminierung als falsch und die unterstellte Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als realitätsfremd bezeichnen. Auch die Bundesregierung hat klargemacht, dass sie keinen Verstoß gegen europäische Regeln zu erkennen vermag.

Die EU könnte in Sachen Mitbestimmung eingreifen, tut es aber nicht

Kurz vor der mündlichen Verhandlung legen die Gewerkschaften noch einmal mit einem Gutachten des Rechtswissenschaftlers Bernard Johann Mulder von der Universität Oslo nach, das diesen Donnerstag veröffentlicht werden soll. Mulder hält die Argumente des Klägers für nicht überzeugend. „Es kann nicht als Diskriminierung angesehen werden, wenn ein Arbeitnehmer, der ins Ausland wechselt, nicht mehr unter die Gesetzgebung seines Heimatlandes fällt“, schreibt er. Eine europäische Gesetzgebung zur Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat gibt es zumindest bisher nicht. Deshalb gilt aus Mulders Sicht das jeweilige nationale Recht, und zwar für alle Beschäftigten, unabhängig von ihrer Herkunft. Dieses Recht endet jedoch an der Landesgrenze, ebenso wie das Kündigungsschutz- oder Streikrecht. Mulder: „Jede andere Regelung würde die Souveränität ausländischer Gesetzgeber verletzen.“

Die EU könnte nach seiner Ansicht hier eingreifen, hat das aber bisher nicht getan. Das Arbeitsrecht fällt in der Gemeinschaft zwar in die Kompetenz der Mitgliedstaaten, aber der Vertrag über die Arbeitsweise der EU bietet die Möglichkeit, aktiv zu werden. So ist in Artikel 153 des Vertrags von der Mitbestimmung als einem Gebiet die Rede, auf dem „die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten“ unterstützt und ergänzt.