Claude de Joncker lebt im Schatten des EU-Parlaments – in einem Zelt. Die Skurrilitäten des Europaviertels kennt er wie kaum ein zweiter.  

Brüssel - Das Europaviertel gehört zu den Toplagen in Brüssel, und dort hat sich Claude de Joncker einen der exquisitesten Flecken ausgesucht: Der 37-Jährige wohnt genau zwischen Schloss Neuschwanstein und dem Europäischen Parlament. Neuschwanstein oder gar "Neuwahnstein", das ist der Spitzname der imposanten Bayerischen Landesvertretung, auf deren Fassade der Belgier einen guten Blick hat. Direkt gegenüber legen sich das wuchtige, verglaste Hauptgebäude des EU-Parlaments und der Flügel mit Plenarsaal und Präsidentenbüro um de Jonckers Zuhause.

 

Dass an solch prominenter Stelle jemand wohnt, wissen die wenigsten. Denn de Joncker ist obdachlos, und sein Zuhause ein Zelt, versteckt in schulterhohen Büschen im Ausläufer des Léopold-Parks. Man sieht es nur aus der Vogelperspektive, wenn man in einem der oberen Stockwerke des Parlaments aus dem Fenster schaut.

Wer de Joncker besuchen will, nimmt einen Pfad zum Parlamentseingang für Besuchergruppen und schlägt sich dann unvermittelt ins Gebüsch. Der Hund La ïos und sein Herrchen sind Besuch nicht gewohnt und misstrauisch. Schließlich bietet de Joncker einen wackligen Sperrmüllstuhl an, und der vierbeinige Namensvetter von Ödipus' Vater legt sich auf ein zerfetztes Sofa neben dem Zelt.

Jeden Nachmittag geht de Joncker betteln

Warum er sich ausgerechnet hier, umgeben von Bürogebäuden, von Institutionen und Stiftungen, niedergelassen hat? "Wenn ich schon bettele, dann da, wo Geld ist", sagt de Joncker. Ende der neunziger Jahre habe er ein Loch im Bauzaun entdeckt, als das Parlament erweitert wurde. Vier Jahre habe er auf der Baustelle gehaust. Danach habe er sein Zelt auf dem Metallgitter aufgeschlagen, auf dem er nun seit etwa acht Jahren wohne.

"Da unten ist die Stromversorgung des Parlaments", sagt de Joncker und zeigt in die Tiefe des Lüftungsschachts. Unentwegt strömt erhitzte Luft nach oben, auf die de Joncker in den kälteren Monaten angewiesen ist. Unter seinem Zeltboden speichert er die Wärme mit einer stoffumwickelten Europalette. Zum Glück, sagt er, dulde ihn der Stromversorger. Und auch der Sicherheitsdienst des Parlaments habe ihn irgendwann in Ruhe gelassen.

Jeden Nachmittag geht de Joncker betteln. Er steht dann an der belebten Place du Luxembourg, auch Place Lux genannt, auf der anderen Seite des Parlaments. Viele Anzugträger gehen dort vorbei, Abgeordnete und Assistenten, Berater und Lobbyisten, Praktikanten und EU-Touristen. Natürlich fällt de Joncker sofort auf: mit seiner abgewetzten Jeans und den Sandalen, die er selbst im Herbst trägt; mit Hut, Hund und dem Trekkingrucksack voll mit seinem Hab und Gut. Es gebe einige sehr nette Leute, die ihn grüßten, erzählt er. "Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, den Psychiater zu spielen." Man vertraue ihm persönliche Probleme an, wie jener Mann, der ihn eines Tages zum Essen einlud: "Seine Frau betrog ihn mit mehreren Männern. Ich sollte für ihn deren Autos in die Luft sprengen und dafür 1000 Euro pro Auto bekommen", behauptet de Joncker. Er habe 500 Euro Anzahlung kassiert und den Mann dann an die Polizei verpfiffen.

Manche seiner Geschichten sind schwer zu glauben

Die Skurrilitäten und verborgenen Geschichten des Europaviertels kennt de Joncker wohl wie kaum ein zweiter. Er weiß, dass im Léopold-Park nachts Füchse heulen und dort die Taschen geklauter Laptops entsorgt werden. Dass zwei Polizisten in Zivil die Place Lux überwachen. Und dass die drahtlosen Internetnetzwerke im Viertel nunmehr alle verschlüsselt sind - zum Leidwesen de Jonckers, der ein sehr gutes Handy besitzt. Manche seiner Geschichten sind jedoch schwer zu glauben: So will er, als er noch ein elektrisches Motorrad besaß, durch den Rohbau des Willy-Brandt-Gebäudes im Parlament gefahren sein. "Auf allen Etagen - außer denen, wo es keine Aufzüge gibt!", sagt de Joncker.

Man ahnt es, sein Leben war bisher an Freuden nicht eben reich. Variationen seiner Geschichte hat man oft gehört: der Vater Säufer, Schläger, Pädophiler. Ein überall gebrandmarkter Sohn. Ein Heimaufenthalt, als der Vater in Haft muss. Zwei abgebrochene Ausbildungen, aber immerhin eine abgeschlossene Schulung zum Videospieleverkäufer. Unfähigkeit, mit Geld umzugehen. Unbezahlte Mieten, Wohnen in einem besetzten Haus, schließlich Straße. Drei Jahre lang habe er sich um eine Sozialwohnung bemüht und dann aufgegeben, sagt de Joncker: "Behinderte, Senioren und Familien haben Priorität. Obdachlose kommen ganz zum Schluss." Als er zu Besichtigungen privater Mietwohnungen erschien, wurde er jedes Mal abgewiesen. Auch eine Arbeit hat er nie bekommen, weder im Supermarkt an der Place Lux noch als Videospieleverkäufer. "Für die Gesellschaft zählt eben vor allem das Aussehen."

De Joncker investiert Geld in Hightechgeräte

Dass ihm jene Gesellschaft monatlich gut 700 Euro Sozialhilfe bereitstellt, erwähnt er eher beiläufig. Ungläubig nimmt man zur Kenntnis, dass er das Geld in Hightechgeräte investiert. Das sei seine Schwäche, dafür trinke er keinen Alkohol. Stolz packt de Joncker einen Laptop und sechs Spielkonsolen aus seinem Rucksack. "Ich habe immer 3300 Euro an Elektronikgeräten dabei", sagt er. Und fügt kleinlaut hinzu, dass er sich die Sozialhilfe in zwei Raten überweisen lasse, damit er sich nicht noch teurere Elektronikgeräte kaufe.

Auch um solche Fälle geht es also, wenn das EU-Parlament das Ziel setzt, bis 2015 das Problem Obdachlosigkeit in Europa zu lösen. Claude de Joncker glaubt nicht, dass es so kommt. Im Übrigen sei die EU ein "großes Ding", zu dem er nicht gehöre. Immerhin findet er zum Schluss noch ein paar nette Worte: "Aber es ist gut, dass es Europa gibt. Besser als Krieg, oder?"

Bekämpfung der Obdachlosigkeit in der EU

Statistik: Über die Zahl der Obdachlosen in Europa werden keine Statistiken geführt. Schätzungen reichen von 100.000 bis drei Millionen Betroffenen. Das liegt auch daran, dass es in Europa keine einheitliche Definition von Obdachlosigkeit gibt. Großbritannien etwa zählt dazu auch Frauen, die vor häuslicher Gewalt in Frauenhäuser flüchten.

Grundrechtecharta: Jeder rechtmäßig in der EU lebende Bürger hat Recht auf unterstützendes Wohngeld, heißt es in der 1999 beschlossenen Charta der Grundrechte. Einen Rechtsanspruch auf eine Wohnung gewähren aber einzelne Mitgliedsstaaten, darunter Großbritannien und Frankreich. Der sei allerdings nur weitgehend theoretischer Natur, sagen Kritiker.

Strategie: Die Bekämpfung der Obdachlosigkeit ist Sache der Nationalstaaten, die EU kann nur koordinierend wirken. Trotzdem hat sich die EU des Themas angenommen: Das Brüsseler Parlament möchte, dass bis 2015 niemand mehr auf der Straße wohnt. Erst im September forderten die Abgeordneten eine EU-weite Strategie. Laut dem EU-Kommissar für Beschäftigung und Soziales, Andor László, arbeitet die Kommission daran. Ein erstes Ziel sei auch eine einheitliche Definition von Obdachlosigkeit.