Primark-Tüten, Betonlandschaft, Bürogebäude: Viele Stuttgarter können mit dem Europaviertel nicht viel anfangen – und dabei tut sich dort einiges.

Stuttgart - Links die Fassade eines Bürogebäudes, rechts die Brachfläche des Pariser Platzes. Wer durch das Europaviertel läuft, verliert sich in der öden Betonwüste schnell. Und dabei sollte hier einst ein Vorzeigeviertel mit europäischem Flair entstehen. Schon in den 90er Jahren begann die Planung für eine neue, internationale Stadtidee. „Unterschiedliche Straßen und Plätze, Wohngebäude mit hoher Privatheit und angemessener Öffentlichkeit sollen mediterranes Stadtleben in das Viertel bringen“, lobte die Preisjury 2010 zum Beispiel am Siegerentwurf für den Bereich rund um den Mailänder Platz. Doch an diese Ziele erinnern heute höchstens noch die Straßennamen – denn zumindest die klingen nach lebendiger Metropole.

 

Negativbeispiel Europaviertel

„Das Europaviertel ist für uns ein Negativbeispiel für die Qualität des öffentlichen Raums“, sagt Britta Hüttenhain, akademische Oberrätin am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart. Für sie hat das verunglückte Viertel gleich mehrere Schwächen. Zum Beispiel gehen die großen Gebäudekomplexe kaum einen Dialog mit dem Straßenraum ein und die Passanten werdem zwischen kalten, nichtssagenden Mauern hindurchgeschleust. „Meistens sieht man als Fußgänger nur die Rückseite von Gebäuden. Es wurde wenig auf ein urbanes Lebensgefühl geachtet,“ so Hüttenhain.

Das zu umgehen, wäre planerisch eigentlich kein Kunststück gewesen: Im Stuttgarter Westen zum Beispiel sorgen kleine Läden, Straßencafés oder Schaufenster dafür, dass der Bezirk lebendig wirkt. „Es muss nicht überall Cafés geben, es würde schon helfen, wenn man in die Büroräume hineinschauen könnte,“ sagt Hüttenhain. Mitschuld an der Misere sei die Tatsache, dass viele Gebäudeblöcke an nur einen Investor vergeben worden seien – ohne Auflagen zu machen, wie die ursprünglich angedachte Mischung zwischen Wohnen und Arbeiten dort umgesetzt werden solle. „Andere Städte waren da konsequenter.“

Lebensader Mailänder Platz

Auch das dreiteilige Milaneo als Publikumsmagnet könne an diesem Bild nicht viel ändern: „Die Mall funktioniert vor allem nach innen. Es gibt im Erdgeschoss fast keine Notwendigkeit, nach außen zu korrespondieren“, so Hüttenhain.

Eine Lebensader fließt heute aber doch durch das monotone Europaviertel: Zwischen der Stadtbibliothek und dem Milaneo zieht sich der quirlige Mailänder Platz wie ein Exot durch die Betonlandschaft. Dunkle Holzbänke stehen dort, Jugendliche treffen sich nach Schulschluss zwischen den Gebäuden. Ein schmaler Grünstreifen zieht sich an der Bibliothek entlang, am Ende steht eine Schaukel. „Im Sommer und am Wochenende kann man sich hier vor Leuten kaum retten“, erzählt Lea Woog, die mit dem Stadtteilteam der mobilen Jugendarbeit als Streetworker im Europaviertel arbeitet. Seit März vergangenen Jahres sind sie und drei ihrer Kollegen regelmäßig vor Ort.

Der Platz galt als Brennpunkt

Einst galt der Bereich als Epizentrum sozialer Auseinandersetzungen. Eskalationen, Streitereien und eine Messerstecherei in der U-Bahn-Unterführung brachten dem Mailänder Platz den Ruf ein, Treffpunkt für aggressive Jugendliche zu sein. „Das Problem hier ist, dass man bei der Planung nicht daran gedacht hat, Aufenthaltsorte für Jugendliche einzurichten. Für die ist das Viertel schließlich hochattraktiv,“ erklärt Simon Fregin, ebenfalls Streetworker. „Viele Jugendliche kommen her, weil sie hier ihre Freunde treffen. Es ist ein sozialer Ort für alle.“ Dass es da angesichts der vielen verschiedenen Gruppen knallen werde, sei jedoch vorprogrammiert gewesen.

Heute moderieren die Streetworker den öffentlichen Dialog so gut wie möglich. „Wir wollen den Jugendlichen einen Raum geben, an dem sie einfach sein können. Viele haben das woanders nicht,“ erklärt Fregin. Er und sein Team sorgen deshalb für Sportmöglichkeiten, organisieren kleine Events und haben mit ihrem Wohnwagen gar einen eigenen Raum für die Jugendlichen geschaffen. Für viele ist dieser heute ein zentraler Anlaufpunkt.

Unerwartete Synergieeffekte

Manchmal brächten die verschiedenen Menschen, die sich tagtäglich auf und um den Mailänder Platz tummeln, auch unerwartete Synergieeffekte, meint Fregin weiter. „Manchmal sitzen zum Beispiel Lerngruppen in der Bibliothek zufällig neben Studenten, die dieselbe Fachrichtung studieren und holen sich von denen Tipps. Oder Angestellte der Bank spielen mittags in ihrer Pause eine Runde Basketball mit den Jugendlichen und erzählen ein bisschen aus ihrem Job.“ Friede jedoch herrscht auf dem Mailänder Platz noch lange nicht: Das Potenzial zur Eskalation gebe es noch immer, meint Fregin. „Aber wir hatten im letzten Jahr weit mehr schöne Erlebnisse als negative. Das wird langsam“, schließt Woog.