Politik, Behörden und Netzplattformen wappnen sich für Manipulationsversuche bei der Europawahl. Die Zahl der Accounts, die Twitter und Facebook löschen, ist dabei beachtlich.

Berlin - An Beispielen fehlt es nicht: US-Sonderermittler Robert Mueller legt bald seinen Bericht über Russlands Rolle bei den amerikanischen Wahlen 2016 vor, die Donald Trump zum Präsidenten machten. Und wer in Berlin mit dem Bundesnachrichtendienst zu tun hat, wird es als unumstößliche Tatsache präsentiert bekommen, dass das knappe Ergebnis beim Brexit-Referendum im selben Jahr ohne die Intervention Moskauer Internetstrategen andersherum hätte ausfallen können. „Es ist erwiesen, dass ausländische staatliche Akteure zunehmend Desinformationsstrategien einsetzen, um gesellschaftliche Debatten zu beeinflussen, Spaltungen herbeizuführen und in die demokratische Entscheidungsfindung einzugreifen“, schreibt die EU-Kommission mit Blick etwa auf die französische Präsidentschaftswahl 2017, bei der die Nationalistin Marine Le Pen Emmanuel Macron unterlag.

 

Vor der Europawahl Ende Mai, bei der es wegen guter Aussichten für EU-Gegner um viel geht, ist die Sorge, dass es zu weiteren Manipulationsversuchen kommen könnte, besonders groß. Macron hat sie zum Wahlkampfthema gemacht, indem er die „Gründung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie“ vorgeschlagen hat, die Experten entsenden soll, um „Wahlen vor Hackerangriffen und Manipulationen zu schützen“. Beim EU-Gipfel Ende 2018 bewerteten alle Regierungschefs die Desinformationskampagnen „als Teil hybrider Kriegsführung“ und „akute und strategische Herausforderung für unsere demokratischen Systeme“. Es bedürfe entschiedenen Handelns auf europäischer und nationaler Ebene, „um sicherzustellen, dass die Europawahl und die nationalen Wahlen frei und fair verlaufen“.

Falsche Accounts überschwemmen die sozialen Netzwerke

In Berlin hat man entsprechend auf den „Aktionsplan gegen Desinformation“ der Brüsseler Kommission reagiert. Die Sicherheitsbehörden seien für das Thema „hoch sensibilisiert“, heißt es in Geheimdienstkreisen. Im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz ist in den vergangenen Monaten eine Arbeitsgruppe, die nach verdächtigen Entwicklungen im Netz Ausschau hält, aufgestockt worden. So wie vor der Bundestagswahl würden auch vor der Europawahl „Akteure in Politik und Medien sowie die Öffentlichkeit entsprechend sensibilisiert, um das Bewusstsein für solche Aktivitäten zu schärfen und die Gefahr negativer Auswirkungen zu minimieren“, schreibt die Bundesregierung.

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ist in allererster Linie dafür zuständig, dass beispielsweise die Datenbanken der Bundes- und Landeswahlleiter gegen Hackerangriffe geschützt sind – die Behörde arbeitet aber auch schon länger etwa mit der Internetplattform Facebook zusammen, wie die Regierung in einer Antwort an den Bundestag berichtet, „insbesondere bezüglich der Sicherheit und Verifizierung von Accounts“.

Gefälschte oder künstlich erzeugte Identitäten sind der Rohstoff, aus dem digitale Attacken oder Kampagnen erzeugt werden. Sogenannte „Social Bots“ sind Programme, die in Netzwerken Beiträge kommentieren, teilen oder mit einem „Gefällt mir“ versehen. Im Zusammenhang mit der Diskussion um den UN-Migrationspakt stellte die Berliner Firma Botswatch beispielsweise fest, dass 28 Prozent der Twitternachrichten zum Thema gar keinen menschlichen Ursprung hatten. Der „Normalwert“ bei politischen Netzdiskussionen in Deutschland liegt demnach auch schon zwischen zehn und 15 Prozent. Bedenkt man, dass dem Digital News Report des Reuters Institute zufolge soziale Netzwerke für knapp ein Fünftel der unter 35-Jährigen bereits die wichtigste und oft einzige Nachrichtenquelle sind, spielt die Verlässlichkeit der dort verbreiteten Informationen eine große Rolle.

Manche sprechen von Panikmache

Vertreter von Facebook und Twitter haben bei einer Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Mittwochabend betont, dass sie Konsequenzen aus der US-Wahl und dem Brexit-Referendum gezogen haben. Es werde mit Factchecking-Agenturen kooperiert, die Inhalte auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüften, berichteten Facebook-Europachef Martin Ott und Nina Morschhaeuser, die Leiterin der Politikabteilung von Twitter Deutschland. 70 Millionen Accounts hat der Kurznachrichtendienst seit vergangenem Sommer demnach gelöscht, bei Facebook sollen es eine Million Profile am Tag sein. Im Vergleich zu vor drei Jahren, so Ott, „als wir nicht erkannt haben, welche Bedrohungslage es gibt“, kümmerten sich nicht mehr nur 10 000, sondern inzwischen 30 000 Mitarbeiter allein um die „Integrität der Plattform“. „Die Europawahl hat für uns absolute Priorität“, sagte der Facebook-Manager. So wird das Unternehmen an seinem europäischen Sitz in der irischen Hauptstadt Dublin einen „War Room“ einrichten, ein Lagezentrum, von dem man sich in Echtzeit mit den europäischen Sicherheitsbehörden austauschen will.

Weil dies bisher vor allem freiwillig geschieht, ist in einem zweiten IT-Sicherheitsgesetz, an dem das Bundesinnenministerium derzeit arbeitet, eine Auskunfts- und Mitwirkungspflicht der Netzplattformen gegenüber dem BSI vorgesehen.

Manchem ist das zu viel Panikmache. „Ja, es gibt koordinierte Desinformationskampagnen“, sagt Simon Hegelich, der an der TU München eine Professur für Political Data Science innehat, „ihre Existenz belegt aber noch keinen Effekt“. Unionsfraktionsvize Thorsten Frei, der auf Falschinformationen im Fall des verschwundenen deutsch-russischen Mädchens Lisa verweist, warnt trotzdem vor Überreaktionen: „Wir sollten hinsichtlich der Bedrohungslage wachsam, aber gleichzeitig auch nicht alarmistisch sein.“ Schließlich hätten „Desinformationskampagnen eines ihrer Ziele schon erreicht, wenn ihnen eine Verunsicherung der Öffentlichkeit gelingt“.