Die Europawahlen haben die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament verändert. Durch Zugewinne für die Grünen, Erfolge für die Rechten und eine schrumpfende politische Mitte bahnen sich komplizierte Koalitionsverhandlungen an.

Brüssel - Zugewinne für die Grünen, Erfolge für die Rechten - und eine schrumpfende politische Mitte: Die Europawahlen haben die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament verändert. Erstmals seit 1979 könnten dort die zwei größten Blöcke - die Europäische Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Sozialdemokraten - ohne eine Mehrheit dastehen. Damit bahnen sich komplizierte Koalitionsverhandlungen an, die Grünen und die Allianz der Liberalen pochen schon auf Einfluss.

 

Der Urnengang in den 28-EU-Mitgliedsstaaten wurde mit Blick auf das Erstarken populistischer Strömungen in den vergangenen Jahren im Vorfeld als Schicksalswahl bezeichnet. Ein Rechtsruck blieb jedoch aus. Proeuropäische Parteien dürften nach wie vor auf rund zwei Drittel der 751 Sitze im Parlament kommen, wie aus ersten Ergebnissen hervorgeht. Demnach bleibt die christdemokratische EVP trotz Verlusten mit 179 der 751 Sitze stärkste Kraft, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 150 Mandaten. Die Grünen dürften rund 70 Sitze erhalten. Der rechtspopulistische Zusammenschluss Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) wird vermutlich auf 57 Sitze kommen, 20 mehr als bisher.

In einem Liveblog können Sie die Geschehnisse vom Sonntag nachlesen.

Weber schließt Kooperation mit rechten Nationalisten aus

„Das Monopol der Macht ist gebrochen“, erklärte Margrethe Vestager von den Liberalen. Sie erhob offen den Anspruch, für ihre Fraktion an die Spitze der EU-Kommission zu rücken. Der Spitzenkandidat der EVP für den Posten, Manfred Weber (CSU), mahnte indes einen Schulterschluss der proeuropäischen Parteien an und schloss eine Kooperation mit rechten Nationalisten aus. Sein ärgster Rivale um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, Frans Timmermans von der Fraktion der Sozialdemokraten, sagte, er strebe eine Zusammenarbeit mit progressiven Parteien an.

In Frankreich schlug die rechte Nationale Sammlungsbewegung um Marine Le Pen die Partei En Marche von Präsident Emmanuel Macron. Jenseits des Ärmelkanals wirbelte die Brexit-Partei von EU-Gegner Nigel Farage die politische Ordnung in Großbritannien durcheinander: Prognosen sahen sie bei 31 Prozent der Stimmen, laut dem EU-Parlament könnte sie damit auf 29 Sitze kommen. Die regierenden Konservativen erlebten ein Debakel, auch die oppositionelle Labour-Partei verlor massiv.

Ergebnis stellt britische Politik auf Kopf

Das starke Abschneiden seiner Partei sei eine „massive Botschaft“ an die lange dominanten Konservativen und die Labour-Partei, erklärte Farage in der Nacht zum Montag - und warnte: Sollte Großbritannien die Europäische Union nicht wie geplant am 31. Oktober verlassen, „werden die Werte, die ihr heute bei der Brexit-Party gesehen habt, bei der Parlamentswahl wiederholt“.

Das Ergebnis der Europawahl stellte die traditionelle Ordnung in der britischen Politik auf den Kopf und vertieft die Ungewissheit im Chaos um den Ausstieg aus der Europäischen Union. Viele Bürger sind der Brexit-Sackgasse offenbar überdrüssig und scharten sich um Parteien, die entweder für eine kompromisslose Scheidung von der Staatengemeinschaft sind - oder kategorisch dagegen.

In Italien gewinnt rechte Lega

In Italien fuhr die rechte Lega von Innenminister Matteo Salvini nach ersten Prognosen mit 32 Prozent der Stimmen einen haushohen Sieg ein - bei der letzten Europawahl vor fünf Jahren kam die Partei noch auf rund 6 Prozent. „Die Lega ist nicht nur die erste Partei in Italien, sondern Marine Le Pen ist die erste in Frankreich, Nigel Farage der erste in Großbritannien“, erklärte Salvini. Dies sei in „Zeichen eines Europas, das sich verändert, das die Nase voll hat“.

Nach der Europawahl in Griechenland zog der Sieg der konservativen Partei Nea Dimokratia prompt Konsequenzen nach sich: Regierungschef Alexis Tsipras strebt nach der Niederlage seiner linken Syriza-Partei nun Neuwahlen an. Er kündigte an, Präsident Prokopis Pavlopoulos um eine Auflösung des Parlaments nach der zweiten Runde der Kommunal- und Regionalwahlen am 2. Juni zu bitten. Der früheste Termin für eine vorgezogene Wahl wäre dann der 30. Juni.

Als positiv erwies sich die Wahlbeteiligung, die mit 50,5 Prozent so hoch war sie seit 20 Jahren nicht mehr, wie der Sprecher des Europaparlaments, Jaume Duch Guillot, mitteilte. Seit Donnerstag waren 426 Millionen Menschen in den 28 EU-Mitgliedstaaten aufgerufen, ein neues Europaparlament zu wählen.