Zwei Juristen listen im Auftrag der Grünen eine Reihe von Verstößen gegen EU-Recht in der ersten Infektionswelle auf.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - In Polen mussten Menschen, die positiv getestet und deswegen verpflichtend in häuslicher Quarantäne waren, mehrfach am Tag ein Handyfoto von sich selbst anfertigen und dies über eine spezielle Handyanwendung (App) den Behörden zusenden. Die App, die für positiv Getestete Pflicht war, sammelte satellitengestützte Daten zur Ortung sowie zur Gesichtserkennung und stellte diese Daten sowohl den Sicherheitsbehörden als auch den Entwicklern der App zur Verfügung.

 

Die Daten sind dauerhaft gespeichert, auch noch sechs Jahre nach der Löschung der App. In der Slowakei war eine ähnliche Software im Einsatz, die allerdings nicht verpflichtend war. In Spanien und Griechenland haben die Behörden mit Drohnen Bürger überwacht und kontrolliert, ob diese die Corona-Einschränkungen auch tatsächlich einhalten.

Zwei Juristen haben die Übergriffe aufgelistet

Diese Übergriffe beim Datenschutz listen die beiden Juristen Mark Dawson (Berlin) und Pierre Thielbörger (Bochum) in ihrer Untersuchung zu den Corona-Maßnahmen auf, die die Regierungen der 27-EU-Mitgliedstaaten in der ersten Welle der Pandemie getroffen haben. Der Report, der unserer Zeitung vorliegt und am Dienstag veröffentlicht wird, wurde im Auftrag der Grünen im Europa-Parlament erstellt und bildet den Zeitraum vom Ausrufen der Pandemie bis zum Sommer ab.

Dazu erklärt die Innenexpertin der Grünen im Europa-Parlament, Terry Reintke: „Die außerordentlichen Umstände erforderten schnelles Handeln, um die gesundheitlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in den Griff zu bekommen. Auf lange Sicht dürfen diese aber nicht auf Kosten von Demokratie und Grundrechte gehen.“

Die Studie zeigt eindeutige Rechtsverstöße auf

Der Studie zufolge habe es in der ersten Welle eindeutige Verstöße gegen EU-Recht gegeben. Durch die unklare und sich schnell verändernde Situation seien diese Gesetzesbrüche bis zu einem bestimmten Grad toleriert worden. Reintke fordert: „Jetzt müssen wir aber prüfen, welche Gesetze angepasst werden müssen, um Klarheit in Grauzonen zu bringen und Gesetzeslücken zu schließen. Solche Rechtsbrüche dürfen sich nicht wiederholen.“

In Polen und Ungarn werde jedoch klar, dass einige dieser Maßnahmen gezielt genutzt wurden, um den Rechtsstaat und europäische Werte zu untergraben. „Wo es dreiste und offensichtliche Verstöße gegen europäische Gesetze gab, müssen diese geahndet werden“, fordert Reintke. Bisher konzentrierten sich EU-Vertragsverletzungsverfahren hauptsächlich auf die Justiz. Die Kommission solle verstärkt die Trennung von Legislative und Exekutive in den Blick nehmen. „Die Gewaltenteilung ist ein nicht verhandelbarer Teil eines europäischen Rechtsstaats. Parlamente sind die Herzkammern unserer Demokratie.“

Außer dem Datenschutz haben die beiden Jura-Professoren drei weitere Bereiche in den Blick genommen: die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Bewegungsfreiheit der Bürger sowie das Asylsystem. Ihr Fazit ist, dass in vielen Mitgliedstaaten die Rechte der Parlamente auf bedenkliche Weise übergangen und zeitweise ausgesetzt wurden. Regierungen hätten mit Notfalldekreten gearbeitet, wodurch es in einigen Staaten zu einer ernsthaften Bedrohung für die Gewaltenteilung gekommen sei.

Im Bericht werden die „üblichen Verdächtigen“ genannt

Immer wieder werden in dem Bericht die „üblichen Verdächtigen“ unter den Mitgliedstaaten genannt, gegen die bereits Rechtsstaatsverfahren der EU laufen: So bemängeln die Forscher, dass etwa in Ungarn die Gerichte, die für die Überprüfung der angeordneten Notmaßnahmen zuständig gewesen wären, vom Staat noch vor den Schulen geschlossen worden seien. Das einzige Gericht, das noch arbeitsfähig war, sei der Verfassungsgerichtshof des Landes gewesen. Und der war nicht zuständig. In vielen Ländern, wie etwa auch in Belgien, wurde in der ersten Welle von Covid-Erkrankungen die Bewegungsfreiheit der Menschen drastisch eingeschränkt.

Ungarn ging aber noch einen Schritt weiter und erließ Extramaßnahmen für die Alten: „Die Regierung fordert Menschen, die das 70. Lebensjahr erreicht haben auf, ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen“, lautete während des Ausnahmezustandes ein Dekret in Ungarn. „Im eigenen sowie im Interesse ihrer Familien“ wurden über 65-jährige Bewohner in Ungarn ebenfalls per Regierungsdekret aufgefordert, Geschäfte, Märkte und Apotheken nur noch von neun bis 12 Uhr morgens zu besuchen.