Die russische Teilnehmerin darf nicht nach Kiew reisen. Ihr Ausschluss ist allerdings nur ein Kapitel im Trauerspiel um den diesjährigen Sängerwettstreit. Die Verlierer des Streits sind jetzt schon alle.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Los ging der Ärger schon am Abend des Sieges im vergangenen Mai. Denn dass der diesjährige Eurovision Song Contest (ESC) in der Ukraine ausgetragen wird, liegt daran, dass 2016 in Stockholm die Ukrainerin Jamala mit dem Lied „1944“ den vermeintlich so unpolitischen und die Völkerverständigung fördernden Wettbewerb gewonnen hat. Ausgerechnet mit einem Stück, das Stalins Massendeportation der Krimtataren im Zweiten Weltkrieg thematisiert. Die Russen schäumten. Für den nächsten Ärger sorgten die Ukrainer dann allerdings in Eigenregie.

 

Als die Wahl des Austragungsorts anstand, brachte sich zunächst auch das auf der Krim gelegene Odessa ins Spiel. Dessen Gebietsgouverneur erklärte scheinheilig mit Blick auf die Kriminalität in der ukrainischen Hauptstadt „in Odessa ist es sicherer als in Kiew“. Woraufhin der Bürgermeister von Dnipro, dem früheren Dnjepropetrowsk, vorpreschte und seine Stadt in der nach wie vor umkämpften Ostukraine als Ausrichter vorschlug. Geworden ist es dann allerdings doch Kiew, finanzielle Garantien hätten den Ausschlag gegeben, behauptete der Kulturminister Jewgeni Nischtschuk.

Russland droht, den ESC über Jahre zu boykottieren

Das war im Oktober. Bald darauf nahm der Chef des ukrainischen Fernsehens aus Protest seinen Abschied, weil die TV-Produktion des ESC-Events so viel Geld verschlingt, dass kaum noch Mittel für das sonstige Programm übrig bleiben. Im Februar traten dann nahezu alle hochrangigen Mitglieder des nationalen Organisationskomitees zurück, weil ihnen die Regierung offenbar keinerlei Handlungsfreiheit zubilligen wollte.

Derweil blieben auch die Russen nicht untätig. Auf einen nationalen Vorentscheid zur Kür ihres Kandidaten verzichteten sie und proklamierten einfach so mal die Sängerin Julia Samoilova als Teilnehmerin. Die sollte in Kiew den anspielungsreichen Titel „Flame still burning“ singen, „Die Flamme brennt noch“. Die 27-Jährige hat jedoch 2015 auf der Krim an einer Gala teilgenommen, was die ukrainische Regierung nun dazu brachte, ein dreijähriges Einreiseverbot zu verhängen.

Die formaljuristische Begründung: laut den ukrainischen Gesetzen müsse, wer die Krim bereisen wolle, dies über die Festlandukraine tun, alles andere sei illegal. „Zynisch und unmenschlich“ sei das, zeterte prompt der russische Vizeaußenminister Grigori Karassin. Ein Sprecher der russischen Regierung drohte sogleich damit, dass Russland den Wettbewerb über Jahre hinweg boykottieren werde. Der ukrainische Geheimdienst teilte derweil mit, dass mindestens 140 weitere russische Künstler auf einer schwarzen Liste stünden und von Einreiseverboten bedroht seien – ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Die russische Seite hingegen, so weit das gewiss nicht allerletzte Kapitel dieses Disputs, erwog am Donnerstag, den Wettbewerb aus Trotz in diesem Jahr nicht im Staatsfernsehen zu übertragen und Julia Samoilova im kommenden Jahr erneut zu nominieren.

Die Verlierer sind am Ende alle

Und was macht die European Broadcasting Union, der Organisator des laut Statuten übrigens explizit unpolitischen Events? Sie schwieg zunächst sibyllinisch und verwies darauf, dass sie selbstverständlich die ukrainischen Gesetze respektieren werde. Dann teilte sie am Mittwoch mit, dass sie „tief enttäuscht“ über die Entscheidung sei, die „dem Geist der Veranstaltung und dem Gedanken der Inklusion widerspricht, der das Herz unserer Werte ist“. Jeder Anstand verbietet nun, zu vermuten, dass die Russen ausgerechnet die im Rollstuhl sitzende Julia Samoilova nominiert haben.

Das Dilemma, in das die Ukraine hineingeschlittert ist, die als Motto des Wettbewerbs ausgerechnet „Celebrate Diversity“ (Feiert die Vielfältigkeit) ist dennoch offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist, wer schon jetzt als Verlierer dasteht, ehe überhaupt ein einziger Ton gesungen worden ist: nämlich alle.