Die Eurorettung wirft Fragen auf, weil in die Hoheitsrechte des Parlaments eingegriffen wird. Manche glauben, die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen würden überschritten. Womöglich muss dereinst das Volk über eine neue Verfassung abstimmen.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat in Zusammenhang mit der Eurorettung eine Volksabstimmung ins Gespräch gebracht. Es wäre die erste in der Geschichte der Bundesrepublik. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erwägt einen Verfassungskonvent. Damit ist eine fundamentale Debatte eröffnet, an deren Ende die Abschaffung des Grundgesetzes stehen könnte. Ob es so weit kommt, ist offen. Aufgeworfen ist aber die Frage, wie und innerhalb welcher Schranken die Bundesrepublik zu Verfassungsänderungen zu Gunsten Europas kommen kann.

 

Wieso macht die Eurorettung eine Änderung des Grundgesetzes nötig?

Nach Überzeugung von Finanzminister Schäuble erfordert die Stabilisierung der Währung auf Dauer eine europäische Fiskalunion, in der die Nationalstaaten haushaltsrechtliche Souveränität abgeben, ein europäischer Finanzminister mit Vetorecht gegenüber den nationalen Haushalten ausgestattet und eine gemeinsame Bankenaufsicht etabliert wird. Ihm schwebt nach seinen eigenen Worten zwar kein föderaler Staat nach dem Muster der USA vor, aber wie die EU der Zukunft genau aussehen wird, weiß derzeit keiner.

Wie ist die Verfassungslage?

Das Grundgesetz ist europafreundlich. Laut Artikel 23 und 24 wirkt die Bundesrepublik „zur Verwirklichung eines vereinten Europas . . . an der Entwicklung der Europäischen Union mit“. Um das zu verwirklichen darf der Bund ausdrücklich Hoheitsrechte an zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen oder sogar im Rahmen des Artikel 79 das Grundgesetz verändern.

Diese Möglichkeiten kollidieren in der Eurofrage aber damit, dass das Parlament laut Grundgesetz über den Haushalt entscheiden muss. Der Bundestag vertritt den Souverän, also das Volk, das ihn in freier Wahl gewählt hat. Eine Übertragung der Entscheidungsgewalt über die Staatsverschuldung, den Haushalt oder Standards der Sozialversicherung an europäische Instanzen beschneidet dieses „Königsrecht“ des Parlaments. Das leitet sich aus Artikel 20 ab: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Was sagt das Verfassungsgericht?

Schon in seinem Maastricht-Urteil von 1993 hat das Bundesverfassungsgericht – als oberster Interpret und Hüter des Grundgesetzes – problematisiert, dass durch die Übertragung von Rechten nach Brüssel das Demokratieprinzip ausgehöhlt zu werden drohe. In seinen Europa-Urteilen seither hat Karlsruhe die jeweiligen Schritte der EU-Integration zwar für verfassungsgemäß erklärt, aber immer wieder auf Grenzen hingewiesen. Als das Gericht im vorigen Herbst über den vorläufigen Rettungsschirm EFSF entschied, betonten die Richter, dass solche Entscheidungen „nicht auf Dauer“ aus der Hand gegeben werden dürften. Dem deutschen Parlament müsse eine zentrale Rolle vorbehalten bleiben. Im September 2011 bezeichnete Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, den grundgesetzlichen Rahmen in einem Interview schon als „wohl weitgehend ausgeschöpft“. Anfang dieses Jahres stellte er bereits in den Raum, dass das höchste Gericht den EU-Prozess „an einer bestimmten Stelle“ anhalten müsste. Seine Botschaft ist, dass die europäische Entwicklung den roten Linien immer näher kommt.

Warum ändert man nicht das Grundgesetz und zieht die roten Linien neu?

Das ist nicht so einfach, auch wenn Grundgesetzänderungen bei uns relativ häufig sind. Artikel 79 setzt den Rahmen. Dort heißt es, dass Bundestag und Bundesrat die Verfassung mit Zweidrittelmehrheit ändern können. Ihnen ist allerdings nicht jede Veränderung erlaubt. Ausdrücklich „unzulässig“ ist es zum Beispiel, an den Grundrechten zu rütteln – oder an Artikel 20, der dem Bundestag seine zentrale Rolle bei der Ausübung der Staatsgewalt zuweist. Auf dem „normalen“ Weg sind die zur Eurorettung allgemein für notwendig gehaltenen Verfassungsänderungen daher nicht möglich.

Das heißt aber nicht, dass die Verfassung innerhalb dieser Schutzzone ewig gilt. Nur die Staatsorgane, die dem Grundgesetz unterworfen sind, wie der Bundestag und der Bundesrat, dürfen den unabänderlichen Teil nicht antasten. Daran rühren darf nur der Souverän – also das Volk, das die Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausübt (Artikel 20) oder die Gültigkeit des alten Grundgesetzes beenden und sich eine neue Verfassung geben kann (Artikel 146): „Dieses Grundgesetz . . .  verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Muss es dazu kommen?

Ob es zu einer Volksabstimmung über Europa oder gar zum Ende des Grundgesetzes kommt, ist offen. Es hängt davon ab, wie viel „mehr Europa“ im Zuge der Währungskrise etabliert wird und wie tief dies in die deutsche Souveränität einschneidet. In seinem Lissabon-Urteil von 2009 hat das Bundesverfassungsgericht lediglich festgehalten: „Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge.“ Wird die EU im Zuge der Eurorettung zu einem föderalen Bundesstaat, in dem Deutschland nur noch ein Glied ist – etwa so, wie das Land Baden-Württemberg ein Glied der Bundesrepublik ist? Wie weit wird die künftige EU davon entfernt sein? Darüber kann man derzeit nur spekulieren. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio wies vor Kurzem darauf hin, dass Karlsruhe von einer Volksabstimmung nur für den „absoluten Grenzfall gesprochen“ habe, „dass Deutschland unwiderruflich seine völkerrechtliche Souveränität aufgibt und Gliedstaat in einem europäischen Bundesstaat“ wird. Aber „niemand in Europa denkt daran, einen europäischen Bundesstaat zu gründen“.

Wie muss der Souverän entscheiden, wenn es dazu kommt?

Dazu trifft das Grundgesetz keine Festlegung. Es gibt verschiedene Wege. Finanzminister Schäubles Vorschlag einer Volksabstimmung setzt auf die Möglichkeiten der „direkten Demokratie“ – die Bürger selbst würden entscheiden. Das hat es in der Bundesrepublik zwar noch nie gegeben, aber Artikel 20 erlaubt auch „Abstimmungen“ als legitimen Entscheidungsweg. Allerdings ist kaum vorstellbar, dass die Bürger lediglich über eine Europapassage direkt entscheiden dürften, während der ganze Rest des Grundgesetzes auf der bisherigen Grundlage einfach weiter gilt. Denn dann besäßen die verschiedenen Teile der Verfassung eine unterschiedliche Legitimation. Norbert Lammerts Hinweis auf eine verfassunggebende Versammlung setzt auf Mittel der „repräsentativen Demokratie“ und stützt sich auf die Geschichte: Das Grundgesetz wurde im August 1948 bei einem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vorbereitet. Art 146 lässt offen, wie das deutsche Volk in freier Entscheidung zu einer neuen Verfassung kommt. Eine verfassunggebende Versammlung kommt im Grundgesetz nicht vor. Wie ein solches Gremium heute aussehen würde, wer es einberufen, wer es leiten und wie umfassend sein Auftrag ausfallen würde, dazu sagt das Grundgesetz nichts.