Eurovision Song Contest Basel und der Traum von ein bisschen Frieden
Basel gilt als europäischste Stadt der Schweiz. Jetzt sind dort ESC-Fans vom ganzen Kontinent zu Gast und feiern eine große Party. Doch es gibt auch Nebengeräusche.
Basel gilt als europäischste Stadt der Schweiz. Jetzt sind dort ESC-Fans vom ganzen Kontinent zu Gast und feiern eine große Party. Doch es gibt auch Nebengeräusche.
Ein wenig sehen Thommy Meierhans (52) und sein Mann Hermann (64) aus, als hätten sie sich verlaufen. Er mit grüner Brille und blauem Zweiteiler mit bunter Stieleis-Werbung darauf, der andere etwas weniger schrill, aber mit keck-schräger Mütze – so sind die beiden Männer, die beruflich die korrekt sitzenden Uniformen der Schweizer Bundesbahn (SBB) tragen, aus dem Aargau nach Weil am Rhein herübergefahren. Jetzt stehen sie vor dem „Haus der Volksbildung“ und warten mit einigen älteren Herrschaften geduldig auf Einlass.
In Basel läuft die große Festival-Woche zum Eurovision Song Contest (ESC). Die kleine deutsche Nachbarstadt – für die Basler vor allem ein Einkaufszentrum mit Straßenbahnanschluss und günstigen Preisen – hat sich an das Großereignis mit einem eigenen kleinen Begleitprogramm angehängt. Für diesen Abend hat der Kulturamtsleiter Peter Spörrer einen Auftritt organisiert, der an die seligen Zeiten erinnert, als der Sängerwettstreit noch „Grand Prix de la Chanson de Eurovision“ hieß. Nicole, die 1982 den ersten von nur zwei deutschen Siegen holte, steht auf der Bühne. Thommy und Hermann sind treue Fans. „Ich bin damals heulend vor dem Fernseher gesessen“, erinnert sich Hermann. Thommy musste schon vorher weinen. Er war erst acht und durfte die Sendung gar nicht anschauen.
Was Nicole damals sang, könnte jetzt so etwas wie das heimliche Motto für den Basler ESC sein. „Ein bisschen Frieden“ wünschen sich alle in diesen Tagen, und das bedeutet, wenigstens nichts von dem ganzen Leid hören zu müssen, das täglich durch die Medien geht. Das klappt nirgendwo besser als in der neutralen Schweiz. Es sei doch ein Glücksfall, dass Nemo im vergangenen Jahr gewonnen habe, lässt sich Jouni Pihkakorpi, Präsident des finnischen ESC-Fanclubs, von der „Basler Zeitung“ zitieren. Dadurch könne man sorglos feiern. Nirgendwo sei es sicherer. „Alle lieben die Schweiz. Sie ist so harmlos“, fasst er zusammen, was die aus ganz Europa angereiste Fangemeinde denkt.
Selbst der große und immer noch aktuelle Konflikt, der im vergangenen Jahr den ESC im schwedischen Malmö massiv beeinträchtigte, wird in Basel, der europäischsten Stadt der Schweiz, auf kleinerer Flamme gekocht. Am Mittwochabend zieht ein Silent-Walk vom Marktplatz über die Mittlere Brücke. 100 bis 150 Personen, so schätzt die Kantonspolizei, hat die Gruppe „ESCalate4Palestine“ zusammenbekommen, um einen Ausschluss Israels zu fordern. Schon die Eröffnungsparade am Samstag hatten die Aktivisten gestört. Man wolle „nicht zulassen, dass der zionistische Apartheidsstaat den ESC zur Verbreitung seiner völkermörderischen Propaganda nutzt“, heißt es im Aufruf.
Doch die Parade, die über einen 1,3 Kilometer langen türkisfarbenen Teppich verläuft, können sie nur kurz stoppen. Dann werden sie von der Polizei abgedrängt und von der Musik, um die es doch eigentlich geht, übertönt. Wesentlich lautstärker sind da die Fans des FC Basel gewesen, die ebenfalls an jenem Samstag die erste Schweizer Meisterschaft seit acht Jahren feierten. Gian Reto Reize, Wirt der Cucharada-Bar in der Steinenvorstadt, weiß seither, was Fußball- und ESC-Fans unterscheidet. „Die Fußballer trinken viel mehr“, sagt der 51-Jährige.
Ihr Angebot haben die Gastronomen an der zur Eurovision-Street umfirmierten Basler Partymeile trotzdem auf das Contest-Publikum abgestimmt. Reize hat zum Beispiel eine Travestiekünstlerin aus Brasilien zu Gast und eine Karaokeshow organisiert. Was ihn selbst stört, sind die Preise. 8,50 Franken kostet in seiner Bar schon an normalen Tagen der halbe Liter Bier. Dass Kollegen zum ESC sogar noch aufschlagen, sei aus seiner Sicht schlicht unverschämt. „Da kommen doch Leute aus Ungarn oder Rumänien, wo das Bier vielleicht einen Euro kostet.“ Es sei auch keine gute Werbung für die Stadt.
Im Hotelgewerbe hatte der Zuschlag für Basel eine regelrechte Goldgräberstimmung ausgelöst. Die Buchungsportale gingen vom Netz, anschließend waren Zimmer, die vorher 200 Franken gekostet hatten, kaum noch unter 1000 Franken zu bekommen. Doch je näher die ESC-Woche rückte, desto mehr bröckelten die Preise. Manfred Neu und Andreas Dörner aus Karlsruhe sind jedenfalls zufrieden. Die beiden 60-Jährigen – der eine mit ordentlich Tüll an Schulter und Taille, der andere mit hautfarbenem Shirt und Tattoo-Attrappen darauf – sind auf der deutschen Seite in Haltingen untergekommen: für 120 Euro die Nacht. Die Stimmung sei super. Und dass auf dem Barfüßer Platz, wo Schülerbands den Eurovision School Song Contest auf großer Bühne austragen, der Klöpfer, die beliebte Schweizer Brühwurst, 7,50 Franken koste, sei auch in Ordnung. „Bei uns ist die Bratwurst fast genauso teuer.“ Dafür sei alles „total freundlich“, sogar die palästinensischen Gegenproteste, sagt Manfred Neu.
Es gibt allerdings Menschen, die das anders erleben. Auf dem Messplatz, wo das Schweizer Fernsehen SRG täglich zur kostenlosen ESC-Party lädt, stellt sich Jean Michel Gina, der SRG-Verwaltungsratspräsident, an einem Stehtisch den Fragen der Umstehenden. Katja Glash nutzt die Gelegenheit: Jüdischen Bürgern sei geraten worden, während des ESC nicht mit Kippa aus dem Haus zu gehen. Nun habe sich auch noch Nemo den Forderungen nach einem Ausschluss der israelischen Starterin – einer Überlebenden des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 – angeschlossen. „Ich habe nicht verstanden, dass sich das Fernsehen davon nicht klar distanziert hat“, sagt die 42-jährige Baslerin. „Eine gute und wichtige Frage“, sagt der Radiomoderator Mike Lamarre und gibt sie postwendend an seinen Chef weiter, der sie auf typisch Schweizer Art beantwortet. „Nemo ist nicht die SRG, und die SRG ist nicht Nemo.“ Allerdings dürfe auch ein Künstler seine Meinung frei äußern.
Dass ein Fernsehintendant sich derart bürgernah gibt und zur Rede stellen lässt – und das auch ohne jede Eskalation funktioniert –, dürfte auch eine Schweizer Besonderheit sein, wo alles plebiszitär ausgetragen wird. Auch die Bewerbung Basels um die Ausrichtung des ESC – die Stadt kostet das Begleitprogramm immerhin 30 Millionen Franken – musste erst per Volksabstimmung abgesegnet werden. Eine ultrachristliche Kleinpartei hatte zuvor Unterschriften gegen die Ausrichtung gesammelt.
Auch Gabrielle Goetschy (68) und Christine Pflieger (59) haben „sehr dafür gebetet“, dass der ESC abgesagt wird. „Er bringt viel Dunkelheit über Basel“, sagt Goetschy. Doch jetzt machen die beiden Missionarinnen aus dem nahen Elsass, die mit ihren Hüten durchaus zum schrillen ESC-Stammpublikum passen, das Beste daraus. Ob Kanadier, Engländer oder Schotten – „wir haben hier schon vielen von Jesus erzählen können“.
In Weil am Rhein nähert sich der Abend dem Ende. Ihren Klassiker hat Nicole für den Schluss aufgehoben. Dafür holt sie auch noch einmal ihre weiße Gitarre heraus wie damals im englischen Harrogate. Auch bei Hermann Meierhans ist es wie vor 43 Jahren. „Ich muss jedes Mal weinen.“